Zeugen Jehovas und die Zeiten der Nationen

Jeder kennt sie: Zeugen Jehovas, die unermüdlichen Verkündiger von Gottes Königreich, bibelfest und höflich, verrufen als gefährliche Sekte. Doch die meisten Leute wissen gar nicht, was Zeugen Jehovas eigentlich glauben.

Was Zeugen Jehovas lehren

Die grundlegenden Unterschiede zwischen den Überzeugungen eines Zeugen Jehovas und einem katholischen Christen lassen sich in wenigen Worten zusammenfassen: Der Zeuge glaubt weder an die Dreieinigkeit Gottes, noch an die Unsterblichkeit der Seele und auch nicht daran, dass es eine Hölle als Bestrafung der Gottlosen gibt. Ich kann das so pauschal sagen, weil sich in diesen Punkten alle Zeugen Jehovas einig sind. Man darf schlicht und ergreifend kein Zeuge Jehova werden, wenn man eine Überzeugung vertritt, die den Grundsätzen der Wachtturm-Gesellschaft widerspricht.

Alle oben genannten Punkte sind Dinge, die wir Menschen aus der Bibel herauslesen, interpretieren und dann einfach glauben müssen, denn wir können nichts davon nachprüfen. Somit hängt alles vom richtigen Verständnis der Schriftstellen ab. Ich glaube sogar, dass Zeugen Jehovas in diesen theologischen Fragen gar nicht so falsch liegen.

Eine Sache gibt es jedoch in der Lehre der Wachtturm-Gesellschaft, die ich für grundlegend falsch halte: Die Organisation hat den Anspruch, in unserer Zeit der einzige „treue und verständige Sklave“ zu sein, den Jesus Christus nach Matthäus 24,45 über seine Hausknechte eingesetzt hat, „um ihnen ihre Speise zur rechten Zeit zu geben.“ Mit anderen Worten: Die Leitende Körperschaft der Zeugen Jehovas ist die einzige Autorität, die die Menschen mit „geistiger Speise“, das heißt mit Wachtturm-Literatur, versorgen darf. Damit ist sie die höchste Instanz, wenn es um die Auslegung und das Verständnis der Bibel geht.

Jesus Christus, so wird behauptet, habe im Jahr 1914 sein Königreich unsichtbar im Himmel aufgerichtet und den Satan auf die Erde geworfen (deshalb sei auch der erste Weltkrieg ausgebrochen). In dieser Zeit wurden die damaligen Bibelforscher angeblich aufgrund ihrer Treue von Jesus als „Gottes Organisation“ eingesetzt. Die Autorität der Wachtturm-Gesellschaft steht und fällt also mit der Behauptung, dass 1914 etwas Bedeutsames in der geistigen Welt geschehen ist. Um zu beweisen, dass dieses Datum eine biblische Bedeutung hat, müssen allerdings eine ganze Reihe von Bibelstellen auf sehr abenteuerliche Weise kombiniert werden. Ich fasse das mal zusammen:

Die Zeiten der Nationen

Im Prophetenbuch Daniel heißt es über König Nebukadnezar von Babylon, dass „sieben Zeiten über ihm vergehen sollen.“ (Daniel 4,13 bzw. 4,16 in der Neue-Welt-Übersetzung) Das bezieht sich auf den Zeitraum von Nebukadnezars Wahnsinn, in dem er sich wie ein Tier verhielt und sein Reich nicht mehr regieren konnte.

Die Leitende Körperschaft behauptet aber ohne wirkliche Grundlage, diese sieben Zeiten hätten darüber hinaus noch eine größere Bedeutung. Im Buch der Offenbarung (der Johannes-Apokalypse) werden dreieinhalb „Zeiten“ nämlich mit 1260 Tagen gleichgesetzt (Offenbarung 12, 6+14), demnach seien sieben Zeiten 2 x 1260 = 2520 Tage. Diese „Tage“ seien aber nun keine wirklichen Tage, sondern Jahre! Das können sie behaupten, weil an zwei Stellen in der Bibel ebenfalls ein Tag sinnbildlich für ein Jahr steht (4. Mose 14,34; Hesekiel 4,6). Es gibt aber keinen Anhaltspunkt dafür, dass ein solches „Jahr-Tag-Prinzip“ einfach willkürlich auf alle Angaben von Tagen angewendet werden darf.

Unter Zuhilfenahme des Lukas-Evangeliums wird nun noch behauptet, diese 2520 Jahre seien die so genannten „Zeiten der Nationen“, von denen Jesus gesprochen hatte (Lukas 21,24). In diesem Zeitraum würde Jerusalem „zertreten werden von den Heiden.“ Wenn man vom Jahr 1914 (n. Chr.) jetzt 2520 Jahre abzieht und berücksichtigt, dass es ein „Jahr 0“ eigentlich nicht gegeben hat, kommt man auf das Jahr 607 v. Chr. – was bedeutet, dass Jerusalem in diesem Jahr zerstört worden sein müsste, was Zeugen Jehovas auch felsenfest behaupten. Glücklicherweise ist das endlich eine greifbare Behauptung, die wir anhand von Fakten überprüfen können.

Die Babylonier erstürmen Jerusalem (c) Angus McBride

Es existieren zahlreiche Möglichkeiten, das Jahr zu ermitteln, in dem König Nebukadnezar in alter Zeit Jerusalem zerstört hat. Es wurden astronomische Tagebücher in Keilschrift ausgegraben, wir haben eine Königsliste von Uruk, etwa 1300 Königsinschriften, mehrere Tausend Verwaltungstexte, die neubabylonischen Chroniken, Vertragstafeln, den sogenannten „Königskanon“ (der manchmal „ptolemäischer Kanon“ genannt wird) und die Angaben des antiken Historikers Flavius Josephus, der den babylonischen Priester Berossus zitiert. Alle diese Texte vermitteln ein erstaunlich klares Bild der gesamten neubabylonischen Ära, und alle stimmen darin überein: Jerusalem wurde im Jahr 587 v. Chr. zerstört, also etwa 20 Jahre nach dem Datum, das die Wachtturm-Gesellschaft angibt.

Damit leugnet die Gesellschaft einen archäologisch und astronomisch ziemlich eindeutig belegten, historischen Fixpunkt. Sie ist bereit, die Wahrheit zugunsten ihrer eigenen Ideologie zu ignorieren. Das ist nicht nur Irreführung ihrer anvertrauten „Hausknechte“, sondern auch in höchstem Maße unwissenschaftlich.

70 Jahre Verwüstung oder Knechtschaft?

Werden Zeugen Jehovas mit dieser Diskrepanz konfrontiert, argumentieren sie meistens, die Chronologie der Bibel habe für sie einen höheren Stellenwert als „weltliche Quellen“, und die Bibel selbst zeige angeblich auch direkt, dass Jerusalem 607 v. Chr. zerstört worden ist. Dazu wird der Prophet Jeremia angeführt, der angeblich vorhergesagt hat, dass Jerusalem 70 Jahre verwüstet liegen würde, und zwar bis das babylonische Reich untergehen würde. In der Bibel der Zeugen Jehovas klingt das so:

„Und dieses ganze Land soll ein verwüsteter Ort werden, ein Gegenstand des Entsetzens, und diese Nationen werden dem König von Babylon siebzig Jahre dienen müssen. Und es soll geschehen, wenn siebzig Jahre voll sind, dass ich den König von Babylon und jene Nation zur Rechenschaft ziehen werde, ist der Ausspruch Jehovas, für ihr Vergehen, ja das Land der Chaldäer, und ich will es zu wüsten Einöden machen auf unabsehbare Zeit.“

Prophet Jeremia, Kapitel 25,11+12 (Neue-Welt-Übersetzung)

„Denn dies ist, was Jehova gesagt hat: In Übereinstimmung mit der Erfüllung von siebzig Jahren in Babylon werde ich euch meine Aufmerksamkeit zuwenden, und ich will euch gegenüber mein gutes Wort bestätigen, indem ich euch an diesen Ort zurückbringe.“

Prophet Jeremia, Kapitel 29,10 (Neue-Welt-Übersetzung)

Tatsächlich war es so, dass Nebukadnezar das Land Israel zu einem „verwüsteten Ort“ gemacht und das jüdische Volk in mehreren Phasen nach Babylon deportiert hat. Dort mussten sie bleiben, bis der Perserkönig Kyrus im Jahr 539 v. Chr. Babylon erobern konnte. In diesem Jahr endete das neubabylonische Reich und die Juden durften aus der Gefangenschaft in ihr Land heimkehren. Aufgrund der Reisezeit konnten sie aber nicht vor 538 v. Chr. in Jerusalem angekommen sein. Deshalb müsse man die 70 Jahre der Verwüstung, die Jeremia prophezeit hatte, von 538 v. Chr. an rechnen und käme dann auf 607 v. Chr. (das Jahr 538 selbst zählt auch schon mit). Demnach, so die Argumentation, zeige die Bibel selbst, dass im Jahr 607 v. Chr. Jerusalem zerstört worden ist. Bei dieser Auslegung des Propheten Jeremia gibt es aber zwei große Probleme.

Erstens: In Jeremia Kapitel 25 sagt der Prophet, dass „diese Nationen“ dem König von Babylon 70 Jahre dienen würden, es geht also nicht speziell um die Juden, sondern auch um alle Nationen ringsum, wie der Textzusammenhang deutlich zeigt! Die 70 Jahre stehen also nicht im Zusammenhang mit der Verwüstung Jerusalems, sondern in Bezug zur Knechtschaft aller Nationen des Nahen Ostens.

Zweitens: In Jeremia Kapitel 29 sagt die Bibelübersetzung der Zeugen Jehovas, die Juden müssen „siebzig Jahre in Babylon“ bleiben. Die hebräische Präposition, die hier im Originaltext verwendet wird, hat aber grundsätzlich keinen lokalen, sondern einen richtungsweisenden Charakter, bedeutet also „zu“, „für“, „nach“ oder „in Bezug auf“. In einigen wenigen Ausnahmefällen kann das Wort tatsächlich „in“ bedeuten, aber eine solche Verwendung ist hier sehr unwahrscheinlich, einige Hebräisch-Gelehrte halten es sogar für ausgeschlossen. Korrekterweise müsste der Text demnach heißen: „Siebzig Jahre für Babylon“. Fast alle anderen Bibelübersetzungen geben den Text auch genau so wieder oder umschreiben, was gemeint ist. Es geht also wiederum nicht darum, dass die Juden 70 Jahre in Babylon bleiben müssten, sondern dass Babylon 70 Jahre lang die Vorherrschaft über den gesamten Vorderen Orient gegeben wurde.

Biblische und weltliche Chronologie

Der innerbiblische Zusammenhang weist also keineswegs auf das Datum 607 v. Chr. Und selbst wenn die Zeugen-Jehova-Auslegung von Jeremias Prophezeiung korrekt wäre, könnte man trotzdem nicht behaupten, dass die Bibel alleine auf das Jahr 607 v. Chr. deute. Die Bibel bietet zwar in sich eine geschlossene Chronologie und die Ereignisse lassen sich schön aneinander reihen, aber es ist nur eine relative Chronologie, denn die Jahreszahlen in der Bibel werden ja nicht mit „vor Christus“ oder „nach Christus“ angegeben. Wir wissen also zunächst einmal nicht, wo wir die biblische Chronologie in unserer heutigen Zeitrechnung ansetzen sollen! Man braucht auf jeden Fall ein Ereignis, das sowohl in der Bibel als auch durch die „weltliche“ Geschichtsforschung belegt ist, damit man daran die beiden Chronologien verknüpfen kann. Erst dann wird aus der biblischen Zeitrechnung eine absolute Chronologie.

Zeugen Jehovas nehmen als solchen Anknüpfungspunkt die Zerstörung von Babylon im Jahr 539 v. Chr., die sowohl in der Bibel als auch durch einige Keilschrift-Tafeln dokumentiert wird. Die Wachtturm-Gesellschaft muss sich also auf mindestens eine weltliche Quelle verlassen, eine andere Möglichkeit gibt es nicht! Wer sagt, er verlasse sich bei der Chronologie lieber auf die Bibel als auf weltliche Quellen, zeigt damit nur, dass er etwas Grundsätzliches nicht verstanden hat.

Die biblische Prophezeiung der 70 Jahre und alle weiteren Bibelstellen, die darauf Bezug nehmen, lassen sich wunderbar mit den archäologischen, astronomischen und historischen Tatsachen in Einklang bringen. Dazu muss Jerusalem nicht 607 v. Chr. zerstört worden sein. In der folgenden Grafik habe ich einmal versucht, alle biblischen und historischen Fixpunkte zu illustrieren und in Übereinstimmung zu bringen:

Es ist verblüffend, wie genau alles zusammenpasst! Die historischen Fakten stehen also nicht im Widerspruch zur Bibel, sondern nur im Widerspruch zu dem, wie Zeugen Jehovas die Bibel auslegen.

Meiner Ansicht nach ist im Jahr 607 v. Chr. überhaupt nichts geschehen, das irgendwie für den biblischen Zusammenhang relevant wäre. Und damit ist natürlich auch das Jahr 1914 ein völlig irrelevantes Datum. Die Sache wird nur dadurch scheinbar beeindruckend, weil im selben Jahr der Erste Weltkrieg ausgebrochen ist. Jedoch haben Zeugen Jehovas und viele andere christliche Gruppierungen in der Vergangenheit die 2520 Jahre (und auch andere Zeiträume) so interpretiert und die Anfangspunkte jeweils so gewählt, dass es für beinahe alle Jahre zwischen 1830 und 1930 eine Prophezeiung gab! Dabei wurde nicht vorhergesagt, dass ein Krieg ausbrechen würde, sondern nur, dass „etwas Bedeutsames“ geschehen würde. Wäre der Weltkrieg nicht ausgebrochen, wäre die Prophezeiung für das Jahr 1914 wie alle anderen auch in Vergessenheit geraten.

Für mehr Informationen zum Thema empfehle ich das Buch „Die Zeiten der Nationen näher betrachtet“ von Carl Olof Jonsson. Dort findet man eine wirklich großartige Analyse und Widerlegung der Wachtturm-Chronologie. In dem Buch stehen auch die Quellennachweise für alle hier gemachten Behauptungen und weit darüber hinaus.

Schlussfolgerung

Wenn im Jahr 1914 nichts biblisch Bedeutsames geschehen ist, verliert die leitende Körperschaft der Zeugen Jehovas ihre gesamte Autorität. Es würde bedeuten, dass die Gesellschaft nun schon über ein Jahrhundert eine völlig falsche Ideologie vertritt und unter einer völlig falschen Rolle auf der Weltbühne aufgetreten ist. Sich das einzugestehen, würde ein hohes Maß an Mut und Demut erfordern. Aber obwohl ihre Führung in New York in meinen Augen eine falsche Lehre verbreitet, bedeutet das nicht, dass die einzelnen Zeugen Jehovas dadurch unaufrichtige oder heuchlerische Leute sind. Im Gegenteil bin ich davon überzeugt, dass man von Zeugen Jehovas viel lernen kann und sie vieles richtig machen. Wie der Apostel Paulus sagte: „Prüft alles und das Gute behaltet“ (1. Thessalonicher 5,21+22).

Ich persönlich habe an Zeugen Jehovas wesentlich weniger auszusetzen als an der katholischen Kirche. Meine Empfehlung: Wenn das nächste Mal die freundlichen Bibelforscher an deiner Tür klingeln, sei höflich und höre dir an, was sie zu sagen haben. Meistens ergeben sich sehr gute Gespräche und vielleicht bringst du sie ja auch einmal zum Nachdenken, wenn es um die Autorität ihrer Organisation geht. Aber wehe denen, die über Zeugen Jehovas lachen, ohne ihnen wenigstens einmal ernsthaft zugehört zu haben.