
Vom Weltenbaum und seinem Geistermädchen Lilith
Die Erzählung vom verlorenen Paradies gehört zu den am meisten missverstandenen Texten der Bibel. Warum steht dort ein Baum der Erkenntnis? Ist dessen Frucht wirklich so schlimm? Und was hat der pagane Mythos vom Weltenbaum damit zu tun?
Ein Garten am Rand des Himmels
Das Buch Genesis enthält in Kapitel 1 das berühmte Sieben-Tage-Werk, ein Schöpfungs-Gedicht zur Erschaffung des Kosmos. Darauf folgt in Kapitel 2 eine Schöpfungs-Erzählung, die den Fokus auf die Kreation des Menschen legt. Dieser unschätzbar wertvolle Text verdeutlicht aber auch, wo unser Platz in der Welt ist und was geschieht, wenn wir das ignorieren.
Nachdem Gott aus Staub von der Erde den Menschen geformt und den Atem des Lebens in seine Nase gehaucht hatte, erfahren wir einiges über die Umwelt dieser neuen Seele:
„Und der HERR, Gott, pflanzte einen Garten in Eden im Osten, und er setzte dorthin den Menschen, den er gebildet hatte. Und der HERR, Gott, ließ aus dem Erdboden allerlei Bäume wachsen, begehrenswert anzusehen und gut zur Nahrung, und den Baum des Lebens in der Mitte des Gartens, und den Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen.“
Genesis 2, 8+9 (ELB)
Umgangssprachlich kennen wir den Ort des Geschehens als das Paradies. Im Genesis-Text steht das Wort aber nicht. Stattdessen ist die Rede von einem Garten in Eden. Was ist damit gemeint? Aus Keilschrift-Texten der alten Sumerer ist ein Gebiet namens Gu-An-Eden bekannt, das dem hebräischen גן עדן (gan eden = Garten Eden) entspricht. Übersetzt bedeutet Gu-An-Eden ungefähr Steppe am Rand des Himmels und meint ein begehrtes Weideland im Zentrum Mesopotamiens. Eine Inschrift auf der sogenannten Geier-Stele (ca. 2500 v. Chr.) erinnert an den blutigen Grenzkonflikt zweier sumerischer Herrscher, die um die Kontrolle über das Gebiet stritten. Krieg um Eden!
Geografisch gesehen lag die Himmels-Steppe in der Nähe der Stadt Uruk. Aus der Perspektive eines hebräischen Schreibers, der sich im Land Kanaan befindet, wäre das im Osten. In diesem ohnehin schon fruchtbaren Landstück habe Gott also einen Garten gepflanzt. Das Wort Garten – ein umzäunter Bereich – ist im deutschen Sprachgebrauch ziemlich abgenutzt. Man sollte dabei nicht an Gartenzwerge denken, sondern an prunkvolle Palast- oder Tempelgärten. So etwas konnten sich im Orient nur die Reichsten der Reichen leisten. Allein der Unterhalt künstlicher Bewässerungsanlagen verschlang ein Vermögen. Ein Garten war der Luxus schlechthin.
In einer solch angenehmen Umgebung mit Schatten, Wasser und Nahrung findet sich der Mensch nach seiner Erschaffung wieder. Der Text möchte wohl sagen: Der Garten in Eden ist ein Bild für das Leben, wie es von Gott gedacht war. Ein Ort zum Aufblühen. Gott möchte, dass seine Geschöpfe versorgt sind und ein gutes Leben haben. Baum des Lebens für alle! Eine schöne Geschichte bis jetzt – nur hat sie nichts zu tun mit der Welt, die wir kennen. Warum das so ist, erklärt ein anderes Gewächs des Gartens: Der Baum der Erkenntnis.
Von Freiheit und ihren Folgen
Der nun folgende Abschnitt mit seinen Erklärungen basiert auf einem Vortrag des Theologie-Professors Siegfried Zimmer. Warnung – ab jetzt besteht akute Weltbild-Erschütterungs-Gefahr. Es gilt, eines der schwerwiegendsten Missverständnisse der Christenheit zu klären. Denn seltsamerweise ist heutzutage die dominierende Assoziation mit dem Garten Eden nicht Erfüllung, sondern Einschränkung. Wir denken an Schlangen und verbotene Früchte und göttliche Strafen. Und alles wurzelt in diesem einen Satz:
„Und der HERR, Gott, gebot dem Menschen und sprach: Von jedem Baum des Gartens darfst du essen; aber vom Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen, davon darfst du nicht essen; denn an dem Tag, da du davon isst, musst du sterben!“
Genesis 2, 16+17 (ELB)
Da steht also in der Mitte des Gartens der Baum des Lebens, und ringsum zahllose weitere Bäume mit leckeren Früchten. Ich stelle mir vor, wie der Mensch die bunte Vielfalt etwas zögerlich, aber voller Vorfreude betrachtet. Doch dann hebt Gott an, ein erstes Wort an seine Menschen zu richten. Was wird er sagen? Folgt jetzt die große Ernüchterung? Startet schon hier das große religiöse System der Gebote und Gesetze? Ja, in der Tat. Das erste Gebot Gottes an den Menschen lautet: „Von jedem Baum des Gartens darfst du essen.“ Punkt.
Sinngemäß sagt der Schöpfer: Tob‘ dich aus!
Unter diesem Vorzeichen muss alles Weitere verstanden werden. Auch die Einschränkung, die danach folgt: Vom Baum der Erkenntnis bitte nicht essen. In den meisten deutschen Bibeln wurde hier leider ein extrem moralischer Akzent gesetzt, der spätere theologische Auslegungen vorwegnimmt. Doch das angebliche Verbot klingt ganz anders, wenn man es wortgetreu aus dem Hebräischen übersetzt:
„Und von dem Baum der Erfahrung von Gutem und Schlechtem – iss nicht davon! – Denn an dem Tag, da du davon isst, wirst du sicher sterben.“
Genesis 2, 17 (Eigene Übersetzung)
Für mich hört sich das nicht nach Verbot an, sondern nach dem guten Rat von jemandem, der um unser Wohlergehen besorgt ist. Der Erkenntnisbaum ist weder Glaubensprüfung noch Schikane. Der Grund für die eindringliche Warnung des Allvaters liegt darin, dass der Baum vergiftet ist. Die Frucht wird uns nicht gut bekommen.
Halten wir zunächst fest, dass der Tod hier nicht als Strafe wegen moralischem Fehlverhalten angekündigt wird, sondern als logische Konsequenz, als rein sachliche Tatfolge.
Doch worum geht es eigentlich bei diesem seltsamen Erkenntnisbaum? In der hebräischen Sprache hat das Wort Erkenntnis eine viel tiefere Bedeutung. Wenn es im Bibeltext später heißt „Adam erkannte seine Frau Eva“ (Genesis 4,1), dann bedeutet das nicht, dass er unter all den Tieren endlich seine Frau entdeckt hat, sondern es ist ein poetischer Ausdruck dafür, dass sie Sex miteinander hatten. Es geht nicht nur um intellektuelles Verständnis, sondern um ein sinnliches, umfassendes Erkennen. Wir würden es Erfahrung nennen. Der Baum steht für die Erfahrung jener Dinge im Leben, die (langfristig!) gut für dich sind und anderer Dinge, die schlecht bzw. schädlich sind.

Das Gebot, besser nicht vom Erkenntnisbaum zu essen, setzt den Menschen eine Grenze. In einem wirklichen Paradies muss dieser Baum notwendigerweise stehen. Denn wo immer Menschen in Frieden zusammenleben möchten, gibt es keine grenzenlose Freiheit. Wir müssen Rücksicht aufeinander nehmen. Meine Freiheit endet dort, wo die des anderen beginnt. Wer das ignoriert, löst eine Gewaltspirale aus, die letztlich zum Tod führt.
Im Leben werden wir laufend vor Entscheidungen gestellt. Und obwohl wir meinen, die Konsequenzen dieser Entscheidungen abschätzen zu können, ist das meistens nicht der Fall. Insbesondere nicht, wenn es um langfristige Auswirkungen oder um Folgen für unsere Mitmenschen geht. In einer perfekten Welt müsste uns Gott jede Entscheidung abnehmen, denn der Schöpfer weiß am Besten, was gut für uns ist. Er allein kann die langfristigen Konsequenzen überblicken. Doch wir sind freie Geschöpfe und möchten selbstbestimmt handeln. Ich glaube, das gehört zum Mensch-Sein, und Gott weiß das. Es bedeutet aber, dass wir die negativen Konsequenzen unserer Entscheidungen gegenseitig tragen müssen. Unser ganzes Leben in all seinen Schrecken und Freuden läuft hinaus auf die Erkenntnis von Gutem und Schlechtem. Unser ganzes Dasein ist der Griff nach der „verbotenen“ Frucht vom Erkenntnisbaum.
Wir nehmen die Frucht, wir spüren das Gift, und wir sterben. So ist unser Leben.
Die beiden Bäume in Eden erzählen somit einerseits vom Idealzustand unserer Welt (Baum des Lebens) und andererseits von ihrem tatsächlichen Zustand (Baum der Erkenntnis). Der Mensch ist dazwischen hin- und hergerissen. Die Bäume sind eng miteinander verwoben. Beide repräsentieren unser Leben; der Unterschied liegt nur darin, wer die Entscheidungen fällt.
Nur ein Baum in Eden?
In der mythologischen Vorstellung, die der Geschichte vom Garten Eden zugrunde liegt, gab es wahrscheinlich nur einen Baum. Zwar ist es letztlich nicht ausschlaggebend, ob wir von zwei getrennten Bäumen oder von zwei Aspekten eines einzigen, gewaltigen Weltenbaums sprechen. Aber die Idee eines einzigen Baumes in Eden hilft uns, Parallelen zur Gedankenwelt anderer Kulturen zu ziehen. Wir werden sehen, dass die Bäume bei weitem kein exklusiv hebräisches Bild sind. Der Baum als Gleichnis für das menschliche Leben ist geradezu ein Welt-Mythos, der sich durch die Kulturen zieht wie ein roter Faden. Die Geschichte von Adam und Eva steht also nicht im leeren Raum und darf deshalb auch nicht willkürlich interpretiert werden. Sie muss vor dem mythologischen Hintergrund verstanden werden, der damals überall bekannt war.
Der Genesis-Text selbst enthält Hinweise darauf, dass in einer Ur-Fassung nur ein Baum in Eden stand. Schauen wir uns zunächst diese Argumente an.
In Genesis 2,9 lässt Gott allerlei Bäume hervorsprießen, insbesondere „den Baum des Lebens in der Mitte des Gartens UND den Baum der Erkenntnis des Guten und Schlechten“. Man fragt sich: Wo steht eigentlich der Erkenntnisbaum? Auch in der Gartenmitte? Er wirkt in diesem Satz umständlich angehängt. Die hebräische Sprache bietet aber noch eine alternative Übersetzungsmöglichkeit, mit der alles Sinn ergibt. Das verbindende „und“ ist im Hebräischen nur ein Buchstabe namens Waw (ו), der hier als erklärender Zusatz verstanden werden kann (Waw explicativum). Sinngemäß müsste der Satz dann lauten: „… den Baum des Lebens in der Mitte des Gartens, nämlich den Baum der Erkenntnis des Guten und Schlechten.“ Vielleicht war der Baum der Erkenntnis nur ein anderer Name für den Baum des Lebens!
Ein zweiter Hinweis folgt in Genesis 3,3. Dort sieht sich Eva bereits mit der Schlange konfrontiert, die fragt, ob Gott wirklich den Genuss aller Bäume im Garten untersagt hat. Sie korrigiert: „Von den Früchten DES Baumes, der in der Mitte des Gartens [steht], hat Gott gesagt: Ihr sollt nicht davon essen …“ Ist das nicht seltsam? Klingt das nicht, als stünde in der Mitte des Gartens nur ein einziger Baum? Zuvor haben wir gesehen, dass das eindeutig der Lebensbaum ist. Eva spricht aber vom Erkenntnisbaum! Wie es scheint, wurden die beiden Bäume nicht so streng auseinander gehalten.
Damit sind wir halbwegs gerüstet für die uralte, aber erfrischende Weltanschauung unserer Vorfahren, die den Bibeltext mitgeprägt hat. Was glaubten diese Leute und wovor hatten sie Angst?
Der dunkle Kiškanu von Eridu
Die wahrscheinlich heiligste Stätte der alten Sumerer war der Tempel von Eridu am Persischen Golf. Verehrt wurde dort Enki, der Gott der Weisheit, des Frischwassers und des Lebens. Er war der Herr über den Abzu, eines gedachten, unterirdischen Süßwasser-Ozeans, aus dem sich alle Flüsse und Seen speisen. Der Abzu in Eridu war sozusagen die Gebärmutter allen Lebens. Auch die Menschen-Schöpfung habe an jenem Ort stattgefunden. Doch das prägendste Merkmal im Eridu-Heiligtum war wohl der Schwarze Kiškanu: Ein mächtiger, alles überragender Baum, von dem eine sumerisch-akkadische Beschwörungs-Formel kündet:
„In Eridu wuchs der schwarze Kiškanu an einem reinen Ort. Sein Glanz ist schimmernd wie Lapislazuli. Über dem tiefen Abzu breitet er sich aus. […] Enki füllte ihn in Eridu mit Pracht.“
Aus: The Legend of the kiskanu, Stephen Langdon (1928), Übersetzung aus dem Englischen von mir
Der Kiškanu existierte offensichtlich real in Eridu, und die Stadt war weithin dafür bekannt. Der Name Eridu (geschrieben in den Keilschrift-Zeichen NUN.KI) bedeutet schlicht Baum-Stadt. In dem sumerischen Mythos Enkis Reise nach Nippur (Zeile 76) wird in Bezug auf das Eridu-Heiligtum ein Garten erwähnt, in dem vermutlich der Baum gedieh. Es ist davon auszugehen, dass er als Abbild eines gedachten Weltenbaums in hohen Würden stand und die Struktur und Stabilität der Welt repräsentierte.
Ein anderer Mythos der Sumerer (Gilgamesch, Enkidu und die Unterwelt, ca. 2000 v. Chr.) erzählt eine ganze Geschichte von kosmologischer Bedeutung, deren Dreh- und Angelpunkt der Kiškanu ist. Die Handlung beginnt mit einem kurzen Prolog, der dem Leser die Entstehung der Welt und ihre grundsätzliche Dreiteilung (Himmel–Erde–Unterwelt) vor Augen führt. Die gleiche Dreiteilung findet sich später in der Struktur des Baums:
„In jenen Tagen, in jenen fernen Tagen, in jenen Nächten, in jenen lange zurückliegenden Nächten, […] nachdem An sich den Himmel genomen hatte, Enlil sich die Erde genommen hatte, und nachdem sie Ereschkigala mit der Verwaltung der Unterwelt beschenkt hatten, – […]
Zu der Zeit war da ein einzelner Baum, ein einzelner Eichenbaum, ein einzelner Baum, der am Ufer des funkelnden Euphrats gepflanzt worden war. Während er aus dem Fluss Wasser trank, riss der kräftige Südwind an seinen Wurzeln, brach seine Äste, und der Euphrat überschwemmte ihn.
Eine Frau, die auf das Wort Ans geachtet hatte, auf das Wort Enlils geachtet hatte, nahm den Baum in ihre Hand und brachte ihn nach Uruk hinein. In den bunt blühenden Garten Inanas wurde sie hineingeführt. […]
Nachdem fünf Jahre, [zehn] Jahre [vergangen waren], wurde der Baum (so) dick, dass nicht einmal seine Rinde sich spalten ließ. In seinen Wurzeln baute eine Schlange, der Zauberworte fremd sind, ihr Nest, in seinen Wipfel setzte der Anzu-Adler (seine) Jungen hinein, in seinem Stamm errichtete das Mädchen der Winde (seine) Behausung.“
Gilgamesch, Enkidu und die Unterwelt, Zeile 1–44 (Übersetzung nach Pascal Attinger, aus: „Erzählungen aus dem Land Sumer“, Konrad Volk, S. 300)
Über die Schlange im Unterholz des Weltenbaumes erfahren wir leider nicht viel. Warum ihr „Zauberworte fremd sind“, bleibt ein Rätsel. Wir können aber festhalten, dass Schlangen die Herrschaft über Leben und Tod zugeschrieben wurde; insofern waren sie gedanklich in der Unterwelt angesiedelt.

Der stürmische Löwen-Greif Anzu war eine bekannte Figur in der sumerischen Sagenwelt. Im Kampf war er den meisten Göttern ebenbürtig und häufig in Konflikte mit denselben verwickelt. Menschen trat der Anzu aber durchaus fair gegenüber und vergalt gute Taten entsprechend. Im Allgemeinen wurden Adler als Repräsentanten der Götterwelt gesehen.
Bleibt der Stamm, der die Ebene der Menschenwelt darstellt. Darin wohnt Ki-sikil Lil-la, das Mädchen der Winde, die dunkle Maid Lilitu. Sie wurde als gespensterhafte Frau mit Vogelkrallen dargestellt und neben Eulen und Löwen abgebildet. In der späteren, hebräischen Überlieferung war sie bekannt als nachtaktive, rast- und ruhelose Wüstendämonin Lilith (vgl. Jesaja 34,14).
Die Frage, warum dieses Phantom-Wesen als Bild für die Menschenwelt dient, darf durchaus nachdenklich stimmen.
In der Geschichte erfahren wir, dass die Göttin Inanna den Baum in den Garten ihrer Stadt Uruk einpflanzt. Dieser Ortswechsel hängt sicher mit einer Verschiebung religiös-politischer Macht von Eridu nach Uruk zusammen. Der Plan der Göttin war, aus dem Holz des Baumes ein Bett und einen Stuhl bauen zu lassen. Beides waren Symbole für das Königtum: Auf dem Bett fand das Ritual der Heiligen Hochzeit statt, in dem der König zum Geschlechtsakt mit einer Tempelpriesterin schritt. Die Fruchtbarkeit des Landes sollte damit gesichert werden. Bei dem Stuhl ist an einen Thron zu denken. Die Aussage scheint zu sein, dass die alten, religiösen Traditionen Eridus nun transformiert werden in eine neue, politische Ordnung mit Uruk im Zentrum. Tatsächlich war Uruk die erste große Metropole mit einem Einflussbereich weit über Sumer und Akkad hinaus. Ihre gewaltige, 9 Kilometer lange Stadtmauer war ein Meilenstein menschlicher Machtgier.
Doch für Inanna gab es ein Problem: Da drei Bewohner im Baum nisteten, konnte er nicht gefällt werden. Sie beginnt zu weinen. „Die leuchtende Inanna, wie sie weinte!“
Schließlich bittet sie den brachialen Gilgamesch um Hilfe, den König von Uruk. Der schreitet sogleich zur Tat: „In den Wurzeln schlug er die Schlange, der Zauberworte fremd sind, nieder; in seinem Wipfel nahm der Anzu-Adler seine Jungen und zog zum Bergland hin; in seinem Stamm gab das Mädchen der Winde seine Behausung auf: Alle drei entschwanden in wüste Einöden“ (Zeile 140–143). Der Baum fällt Gilgameschs Axt zum Opfer. So kommt Inanna zu ihrem Bett und Stuhl, doch auch für sich selbst fertigt Gilgamesch zwei rätselhafte Holzgegenstände an: Ellag und Ekidma. Man vermutet, dass es sich um eine Art Spielgerät handelt; klar ist nur, dass der König damit seine Untertanen drangsaliert.

Um ihr despotisches Königtum in Uruk zu etablieren, zerstören Inanna und Gilgamesch die kosmische Ordnung des Kiškanu-Weltenbaums von Eridu. Sie nehmen etwas von dem Baum; sie formen ihn auf ihre eigene, egoistische Weise; und was dabei für die Mitbewohner und Untertanen herauskommt, ist nichts als Leid. Kommt uns das irgendwie bekannt vor? Durch unser wahnhaftes Streben nach Selbstkontrolle und Bedürfnisbefriedigung verändert sich unser Leben, ja unsere ganze Welt. Die Natur wird ausgebeutet. Der Baum des Lebens wird zum Baum der Erkenntnis. Wir Menschen irren rastlos durchs Leben, stets auf der Suche nach Sicherheit und Ruhe, doch vergeblich! Wie das Mädchen der Winde sind wir dazu verdammt, durch Nacht und Wüste zu wandern.
Wir nehmen die Frucht, wir spüren das Gift, und wir sterben.
Es ist die Lektion aus der biblischen Paradies-Geschichte, nur anders erzählt. Der Kiškanu ist der Baum von Eden.
Eine sehr ähnliche Vorstellung existierte auch im vorchristlichen Skandinavien. In der Snorra-Edda (13. Jahrhundert n. Chr.) wird die Welt-Esche Yggdrasil vorgestellt, die den Kosmos verkörpert und neun Welten beherbergt. In der Baumkrone wohnt ein Adler, in den Wurzeln die Schlange Nidhöggr und auf dem Stamm flitzt das Eichhörnchen Ratatöskr rastlos auf und nieder, um zwischen Adler und Schlange zu vermitteln. Drei der neun Welten sind besonders zu erwähnen: In der Baumkrone liegt Asgard („Asen-Garten“), die Welt der Asen, des nordischen Göttergeschlechtes. Im Stamm befindet sich Midgard („Mittel-Garten“), die Menschenwelt; und kaum überraschend beherbergt das Unterholz die finstere Welt Helheim, das Totenreich.
Der Weltenbaum ist kein Mythos einer bestimmten Kultur. Er ist ein Mythos der Menschheit. Hoffentlich lernen wir etwas daraus.
Ausblick
Fassen wir zusammen: Der Weltenbaum ist ein Abbild unserer Wirklichkeit. In der Geschichte von Adam und Eva steht er in einem tieferen Sinn für die Freiheit, die uns im Leben gewährt wird. Der Ausgang des Dramas ist bekannt: Die Menschen nehmen vom Erkenntnisbaum und verlieren dadurch ihr gutes Leben im Garten. Fortan sind sie gezwungen, in einer rauen Welt umherzuirren. Wir sind das Geistermädchen Lilith.
An dieser Stelle kann und wird der Mensch Gott gegenüber einen berechtigten Einwand bringen: Herr, unsere Neugier und der Drang nach Selbstbestimmung gehören zu unserer Menschlichkeit. Hast du uns nicht so erschaffen? War es mit diesen Eigenschaften nicht unausweichlich, dass wir zur Frucht des Erkenntnisbaums greifen? Meiner Meinung nach lautet die Antwort: Ja, in der Tat.
Die Erkenntnis, die wir aus dem Baum gewinnen, gehört zu einem unvermeidlichen Prozess, den wir Leben nennen, und der uns – vielleicht, eines Tages – in die Lage versetzen wird, den Baum des Lebens zurückzugewinnen. Dafür werden wir lernen müssen, die Freiheit unserer Mitmenschen zu achten. Und wozu es führt, wenn wir das nicht tun. Nur wer die Erkenntnis am eigenen Leib erfahren hat, wird den Lebensbaum zu schätzen wissen.
In der Story von Eden gibt es noch eine tiefere Bedeutungs-Ebene, die zu analysieren sucht, was in unserem Innersten vor sich geht. Häufig werden wir mit verlockenden Entscheidungen konfrontiert, die das schnelle Glück versprechen. Dann wird ein bestimmter Mechanismus in uns aktiv, den es zu verstehen gilt. Das ist der Grund, warum in dem Baum eine Schlange wohnt. Sie ist das perfekte Bild für die Dynamik im Menschen. Sie stellt unsere Zerrissenheit dar zwischen animalischen Trieben und dem bedachten Streben nach wahrhaft Gutem.
Aber das ist eine andere Geschichte.