
Theistische Evolution und das Rätsel der Menschwerdung
Die alte Debatte um Evolution vs. Schöpfung ist ein Klassiker unter den Gläubigen. Besonders zielführend ist sie allerdings nicht. Lassen sich die Erkenntnisse der Evolutionsforschung und der Schöpfungs-Glaube irgendwie zusammen denken? Ich behaupte: Ja, in einem gewissen Rahmen.
Theorie oder Ideologie?
Besonders unter Christen und Muslimen haben viele Gläubige ein berechtigtes, ideologisches Problem mit dem Evolutions-Gedanken. Zwar schließt die Evolutions-Theorie die Existenz eines Schöpfers nicht prinzipiell aus. Aber nehmen wir einmal an, der moderne Mensch sei nur das Ergebnis einer ziellosen Verkettung glücklicher Zufälle. Er habe sich stufenlos aus affenähnlichen Primaten entwickelt. Ab wann ist der Mensch dann ein Mensch? Ab wann kann er von Gott in die Verantwortung genommen werden? Gibt es überhaupt noch Menschenwürde, wenn Gott uns nicht mit derselben erschaffen hat? Kann unser Dasein überhaupt irgendeine Bedeutung haben?
Im Endeffekt beißen sich Evolution und Schöpfung dann doch. Um so mehr, wenn man die biblischen Schöpfungs-Erzählungen in einem historischen Sinn versteht: Dann hat Gott das erste Menschenpaar Adam und Eva ganz konkret mit seinen Händen geformt.
Das eigentliche Problem ist gar nicht, eine versöhnende Theorie aufzustellen, die Gott und der Wissenschaft gleichermaßen gerecht wird. Es gibt zahlreiche Varianten einer solchen theistischen Evolution, die alle schon einen ziemlichen Bart haben. Viel mehr schwelt ein anderes Problem im Hintergrund: Für viele Atheisten wurde Evolution zur Weltanschauung, gleichwie die punktuelle Menschen-Schöpfung für viele Theisten ein unanfechtbares Dogma ist. Die Evolutions- bzw. Schöpfungs-Theorie wurde damit zum Paradigma, ja zum Ausgangspunkt allen Denkens, und nicht zum Ergebnis nüchterner Weltbeobachtung, wie es eigentlich sein sollte. Die große Gefahr dabei nenne ich den Pippi-Langstrumpf-Effekt: „Ich mach‘ mir die Welt, widde-widde-wie sie mir gefällt.“ Man neigt dazu, nur jene Fakten zu sehen, die den eigenen, vordefinierten Standpunkt bekräftigen, und andere zu ignorieren. Niemand ist davor gefeit, auch ich nicht. Aber wer sich der Tendenz bewusst ist, kann zumindest versuchen, dagegen anzusteuern und möglichst objektiv zu bleiben.
Mein Anspruch ist, das Konzept Evolution nach bestem Wissen und Gewissen möglichst fakten-orientiert darzustellen und zu sehen, wohin das führt. Wird Gottes Existenz eher unwahrscheinlich? Bleibt wenigstens ein möglicher Platz für ihn? Oder ist sein Eingreifen am Ende nicht nur hinreichend, sondern notwendig? Hier kommt eine Übersicht der Evolutions-Forschung, über die jeder gottesfürchtige Mensch Bescheid wissen sollte.
Grundlagen der Evolutions-Theorie

Der Naturforscher Charles Darwin formulierte im Jahr 1859 in seinem Werk Die Entstehung der Arten, wie sich die Menschheit durch Mutation aus primitiveren Lebensformen entwickelt haben könnte. Seine Theorie geht von der Beobachtung aus, dass sich im Überlebenskampf der Natur immer die Lebewesen mit den besten Eigenschaften durchsetzen und dadurch stetig weiterentwickeln. Ein simples Beispiel: Eine Giraffe mit besonders langem Hals hat einen Vorteil gegenüber ihren Artgenossen, da sie besser an die frischen Blätter hoher Bäume gelangen kann. Sie wird gegenüber kürzeren Giraffen tendenziell länger (hah, Wortwitz!) überleben und ihre Gene an mehr Nachkommen weitergeben. Über viele Generationen hinweg führt diese natürliche Selektion zu einer mutierten Giraffen-Art. Auf diese Weise, so die Theorie, könnte sich das Leben von wabbeligen, einzelligen Organismen bis hin zu umwerfenden Geschöpfen wie Scarlett Johansson entwickelt haben.
Ein weiterer Evolutionsfaktor ist die Gendrift: Bei der Vererbung gibt jedes Lebewesen seine Gene weiter, jedoch mit zufälligen Veränderungen, die zu Varianten einer Art führen können. Die Häufigkeit einer bestimmten Gen-Variante (eines Allels) ändert sich in nachfolgenden Generationen, und zwar manchmal so stark, dass ein Allel ausstirbt oder das Einzige in einer bestimmten Bevölkerungsgruppe wird. Man spricht dann von der Fixierung des Gens. Diese Mutationen hängen nicht damit zusammen, wie gut sich ein Individuum an die Umwelt anpassen kann, sondern sind wirklich rein zufallsbestimmt. Sie können auch nachteilig sein! Natürliche Selektion und Gendrift wirken wechselseitig, wobei die Gendrift stärkeren Einfluss auf kleine Bevölkerungsgruppen hat – und manchmal sogar zu deren Aussterben führt.
Dass diese Mechanismen wirken, ist innerhalb gewisser Artgrenzen erwiesen. Ein berühmtes Beispiel sind die so genannten Darwin-Finken auf den Galapagos-Inseln, die in verschiedene ökologische Nischen isoliert wurden und dort innerhalb kurzer Zeit ganz unterschiedliche Schnabel-Formen entwickelt haben. In kreationistischen Kreisen spricht man von Mikro-Evolution, um das Phänomen von der Mutation über Artgrenzen hinweg zu differenzieren.
Die Evolutions-Theorie ist in vielen Punkten gut begründet und durchdacht. Sie ist auch nicht prinzipiell anti-göttlich. Im Gegenteil, man kann sie als Arbeitsweg Gottes verstehen und seine Herangehensweise Bestaunen:
„Es ist wahrlich etwas Erhabenes um die Auffassung, dass der Schöpfer den Keim alles Lebens, das uns umgibt, nur wenigen oder gar nur einer einzigen Form eingehaucht hat und dass, während sich unsere Erde nach den Gesetzen der Schwerkraft im Kreise bewegt, aus einem so schlichten Anfang eine unendliche Zahl der schönsten und wunderbarsten Formen entstand und noch weiter entsteht.“
Charles Darwin, „Über die Entstehung der Arten“ (1860), Übers. nach Carl W. Neumann, Schlusssatz in Kap. 14
Ein göttlicher Baukasten
Die Überlegungen der folgenden zwei Abschnitte basieren auf dem Werk Evolution – Ein kritisches Lehrbuch (2013) von Reinhard Junker und Siegfried Scherer. Zwar stehen beide dem Kreationismus nahe, schreiben aber vergleichsweise neutral und kennzeichnen deutlich, wenn weltanschauliche Grenzüberschreitungen getan werden. Meiner Meinung nach stellen sie die Stärken und Schwächen der Evolutions-Theorie fair und übersichtlich dar. Ich will versuchen, die Situation einmal zusammenzufassen:
Wenn wir die Natur beobachten und versuchen, die uns umgebenden Lebensformen zu systematisieren, kann bei oberflächlicher (rein morphologischer) Beurteilung durchaus eine Art Stammbaum entstehen: Von sehr einfachen Organismen über Amphibien zu Säugetieren und zum Menschen. Insbesondere die fossilen Formen, die wir in altem Gestein finden, sind im Großen und Ganzen so angeordnet, dass in den tiefer liegenden (älteren) Erdschichten einfachere Organismen liegen und in den höher liegenden (jüngeren) Schichten komplexere Formen. Das ist ein starkes Argument für eine zeitlich ausgedehnte und abgestufte Entwicklungsgeschichte des Lebens.
Die Erde wird konventionell auf ein Alter von ca. 4,6 Milliarden Jahren datiert. Die ältesten bekannten Lebensformen sind Mikroorganismen, die schon vor ca. 4 Milliarden Jahren auf dem Planeten herumwaberten. Doch dann passierte ziemlich lange nichts. Erst vor 0,5 Milliarden Jahren, in einer erdgeschichtlich vergleichsweise jungen Epoche, dem so genannten Kambrium, muss etwas Rätselhaftes geschehen sein. In den kambrischen Erdschichten stolpert man plötzlich über eine so vielfältige, hochdifferenzierte Fauna, dass von der kambrischen Explosion und dem paläontologischen Urknall gesprochen wird. „Diese Tierstämme sind zudem von Beginn ihres fossilen Nachweises an in der Regel in verschiedene, deutlich abgrenzbare Untergruppen aufgespalten und geographisch meist weit verbreitet. […] Die hauptsächlichen Unterschiede zwischen den Bauplänen der Tierwelt waren damit von Beginn der dokumentierten Fossilüberlieferung vielzelliger Organismen an bereits vorhanden“ (Junker & Scherer, S. 243). Auch in den späteren fossilführenden Sedimenten des Devon und der Kreide ist jedes neue Merkmal (z. B. Knochen, Flossen, Beine oder flugtaugliche Federn) sofort voll ausgereift und funktionsfähig vorhanden.
Beispielsweise ist die Gattung Ichthyostega eine Hybrid-Form mit Merkmalen von Fischen und Landwirbeltieren. Das Amphibium hat Beine, und seine Rücken- und Afterflosse fehlt vollständig. Sein Skelett ist aber trotzdem perfekt an ein Leben im Wasser angepasst und völlig ungeeignet für den Landgang. Wahrscheinlich bewohnte es dicht bewachsene Uferregionen, wo die Extremitäten nützlich waren. Ichthyostega ist also eine Übergangsstufe von Wasser- zu Landlebewesen, aber seltsamerweise erscheinen und verschwinden seine einzelnen Merkmale ganz plötzlich im Fossilbericht. Wir kennen keine halb fertige bzw. funktionslose Zwischenstufen von Beinen oder Flossen.
Ein zweites Beispiel: Der berühmte Archaeopteryx könte eine Übergangsform zwischen Reptil und Vogel sein. Er ist aber nur einer von zahlreichen fossilen Vögeln aus der Kreide-Schicht, die alle schon sehr spezialisiert sind: „Die enorme Vielfalt der Kreidevögel erscheint recht plötzlich auf der Bühne der fossil überlieferten Vögel, viele von ihnen etwa gleichzeitig oder noch früher als diejenigen theropoden [vierbeinigen] Dinosaurier, die am nächsten mit den Vogelvorfahren verwandt sein sollen. Das Merkmalspektrum dieser Formenvielfalt stellt sich eher als komplexes Netzwerk denn als Stammbaum dar“ (Junker & Scherer, S. 257). Die netzwerk-artigen „Stammbüsche“ anstelle von Stammbäumen sind auch bei anderen Tierarten nicht die Ausnahme, sondern die Regel.
Die Abfolge der fossilführenden Schichten ergibt also insgesamt ein stimmiges Bild der evolutionären Entwicklung, aber jede individuelle Lebensform ist in ihren Einzel-Merkmalen schon so stark spezialisiert, dass sich keine Verwandtschaftsverhältnisse rekonstruieren lassen. Die Evolution stellt sich nicht als eine durchgehende, fließende Enwicklung dar, sondern als viele „Mini-Evolutionssprünge“. Um aus diesem unermesslichen Gewirr des Lebens einen sinnvollen Stammbaum herzustellen, müsste man zahlreiche Konvergenzen (Parallelentwicklungen) und Reversionen (Rückentwicklungen) annehmen, was nicht wirklich plausibel darstellbar ist.
Faszination Master-Gene
Eine viel versprechende Erklärung für die sprunghaften Evolutionsschritte kommt aus der Genetik. Man hat herausgefunden, dass die meisten Tierstämme eine nahezu identische Gen-Sequenz besitzen, die sogenannte Homöobox. Dabei handelt es sich um Master-Gene, die untergeordnete Gene steuern bzw. ein- und ausschalten können. Ein etwas makaberes Experiment mit der Fruchtfliege Drosophila illustriert die Macht dieser Regulations-Gene: Wenn man das Homöobox-Gen der Fliege ausschaltet, das für die Augenanlage verantwortlich ist, entwickelt das Tier während der Embryonalphase keine Augen. Umgekehrt ist es möglich, der Fliege beispielsweise im Brustbereich ein zusätzliches Auge wachsen zu lassen. Dabei kann das eingefügte Gen sogar von einer anderen Tierart stammen; im Experiment war es ein Mäuse-Gen. Der Fliege wächst dann aber kein Mäuse-Auge, sondern ein normales Fliegen-Auge. Ähnliche Experimente gibt es mit den Beinen von Insekten und Krabbeltieren, die an den gruseligsten Körperstellen aktiviert werden konnten. Glücklicherweise ist keine dieser Mutanten lebensfähig, sondern stirbt meist direkt nach der Geburt.
Beim Menschen lassen sich Missbildungen wie Polydaktylie (Vielfingerigkeit) oder Syndaktylie (Fingerverwachsung) übrigens auch auf Fehlfunktionen der Master-Gene zurückführen. Das ganze Leben ist also modular aufgebaut, wie ein Baukasten-System. Wir sehen aber auch, dass die Mutation eines einzelnen Moduls praktisch immer negative Auswirkungen hat. Um eine wirklich neue Lebensform zu erschaffen, müssten zahlreiche Änderungen in den Master-Genen präzise aufeinander abgestimmt werden. Deshalb bleibt es vorläufig ein Geheimnis, inwiefern Evolutionsschritte über Artgrenzen hinweg möglich sind. Aber nehmen wir einmal an, es wäre möglich: Dann müssten die Master-Gene schon in den einfachsten Lebensformen vorhanden und an die untergeordneten Gen-Module gekoppelt sein. Das Potenzial für jede Ausprägungsform des Lebens müsste schon von Beginn an da gewesen sein, sodass die einzelnen „Schalter“ seitdem nur noch durch Umweltbedingungen bzw. Selektionsdrücke an- oder ausgeknipst werden.
Aber wie ist diese Fülle an komplexer Information zuerst entstanden? Hat Gott irgendwann einmal eine Art Ur-Zelle mit dem genetischen Basis-Code allen Lebens erschaffen, die sich seither entfaltet? Das wäre zumindest eine Variante der theistischen Evolution. Gottes Eingreifen wäre hier denkbar, aber könnte eine Ur-Zelle auch anders entstanden sein? Wäre Gott an dieser Stelle nur ein Lückenbüßer für Dinge, die wir noch nicht wissen? Wir werden sehen …
Zauber in der Ur-Suppe
Einst hielt man Zellen für eine primitive, klebrige Masse, doch heute sehen wir, dass selbst die winzigste Zelle in ihrer DNA (dem Erbgut) eine Fülle an Information enthält, die durch Zellteilung weitergegeben wird. Die DNA enthält hochspezialisierte Baupläne zur Synthese von Proteinen. Proteine wiederum sind molekulare Maschinen, die die unzähligen Aufgaben innerhalb der Zelle bewältigen und sie am Leben halten. Damit der Bauplan nicht irgendwann zerstört wird, kann er sich selbst innerhalb von Sekunden duplizieren! Wie mag dieser atemberaubende DNA-Code entstanden sein?
Man könnte annehmen, dass im irdischen Ur-Ozean Aminosäuren entstanden sind, die sich zu einer Brühe konzentrierten und dann in zufälliger Reihenfolge in allen erdenklichen Kombinationen zu Proteinen zusammenfügten. Dabei überdauerten nur die „nützlichen“ Proteine die Zeit und formten sich nach und nach zu den Molekülen, die für das Leben notwendig sind. Zeitgleich müsste sich irgendwie aus Nukleotid-Bausteinen (die ihrerseits schon aus Basen, Zucker und Phosophat aufgebaut sind) die DNA in ihrer charakteristischen Doppelhelix-Struktur zusammengesetzt haben. In einem märchenhaften Moment hätten sich dann Proteine und DNA in einer stabilen Hülle vereinigt und die erste einfache Zelle gebildet. Et voilà – Leben!
Vergegenwärtigen wir uns die Wahrscheinlichkeit dieses Szenarios: Ein häufig vorkommendes Protein wie das Kollagen, aus dem die menschliche Haut besteht, ist aus 1055 Aminosäuren zusammengesetzt. Nun gibt es 20 verschiedene in Frage kommende Aminosäure-Arten, die alle in genau der richtigen Reihenfolge angeordnet und nach einem bestimmten Muster gefaltet werden müssen. Um es mit den Worten des humorvollen Journalisten Bill Bryson zu sagen: „Die Chance, dass ein Molekül wie das Kollagen mit einer Sequenz aus 1055 Bausteinen von selbst entsteht, ist schlicht und ergreifend gleich Null. Es geschieht nicht“ (Eine kurze Geschichte von fast allem, 2004, S. 363). Hinzu kommt die kleine Schwierigkeit, dass sich Proteine nicht fortpflanzen können. Stattdessen werden sie stets neu konstruiert, und zwar nach dem Bauplan der DNA. Die DNA wiederum ist auf den geschützten Rahmen der Zelle und funktionierende Proteine angewiesen! Das ist paradox und führt unweigerlich zu der prägnanten Frage des Physikers Paul Davies: „Wenn kein Molekül ohne die anderen funktionsfähig ist, wie konnte dann jedes einzelne Mitglied dieser Molekülgesellschaft je zustande kommen?“ (Das fünfte Wunder. Die Suche nach dem Ursprung des Lebens, 2000, S. 98)
Molekulare Evolution?
Um dem Rätsel auf die Schliche zu kommen, geht man davon aus, dass die Grundbausteine des Lebens auch auf molekularer Ebene eine Evolution durchgemacht haben. Die ersten, einfachen Proteine waren vielleicht nur eine Verkettung aus drei oder vier Aminosäuren, die aus irgendeinem Grund verbunden blieben und in dieser Form einem höheren Zweck dienen konnten. Ist es denkbar, dass Moleküle auf diesem Weg nach und nach an Komplexität zugenommen haben?
Eine teilweise Antwort liefert das berühmte Experiment von Stanley Miller, der im Jahr 1953 versuchte, Leben im Reagenzglas herzustellen. Der Ansatz war, den Ur-Ozean und die Atmosphäre der Erde vor ca. 4 Milliarden Jahren zu imitieren. Man vermischte also siedendes Wasser mit Methan, Ammoniak und Wasserstoff und simulierte mittels elektrischer Funken die Blitze der irdischen Frühzeit. Und siehe da – im Verlauf einiger Tage war die Suppe in den Flaschen zu einer gelbgrünen, matschigen Masse aus Aminosäuren, Zuckern, Formaldehyd, Blausäure und anderen organischen Substanzen geworden. Das sind Bestandteile, die zur Synthese von Proteinen und Nukleinbasen gebraucht werden!
In der jüngeren Vergangenheit wurde das Experiment vielfach unter abgewandelten Bedingungen wiederholt. Die Gase wurden variiert. Man fügte typisch irdische Mineralien bei, darunter Sand und Phosphor. Man entfesselte alle nur denkbaren kosmischen Effekte, denen die Ur-Erde womöglich ausgesetzt war: Elektrizität! UV-Strahlung! Radioaktivität! Hochtemperatur-Plasma! Awesome! Das verrückte ist: In fast jedem dieser Experimente entstanden Biomoleküle, die als Grundbausteine für das Leben unerlässlich sind. Es scheint eher verwunderlich zu sein, wenn solche Substanzen nicht entstehen! Der Biochemiker Peter Michael Kaiser folgerte: „Es scheint vollkommen gleich zu sein, auf welche Ausgangsstoffe man zurückgreift – Hauptsache ist, dass das Gemisch Kohlenstoff, Wasserstoff und Stickstoff enthält und eine Energiequelle vorhanden ist, die die chemischen Bindungen neu ‚ordnet‘“ (in: Evolution im Fadenkreuz des Kreationismus, 2009, Hrsg. Martin Neukamm, S. 177). Auf eine geheimnisvolle Weise scheint die Materie im Universum darauf angelegt zu sein, dass Leben entsteht. Die elementaren Ausgangsstoffe allen Lebens lagern sich unter einfachen Voraussetzungen zusammen, weil ihnen eine bestimmte Neigung innewohnt. Moleküle verbinden sich aufgrund chemischer und physikalischer Eigenschaften, die ihnen inhärent sind, die also einfach in ihrer Natur liegen! Der Paläontologe Stephen Jay Gould kam sogar zu dem Schluss, das Leben sei „chemisch vorherbestimmt“ (Eight Little Piggies. Reflections in Natural History, 1993, S. 328).
Die grundlegendsten Zutaten für das Leben könnten also durch bestimmte Umwelteinflüsse von selbst entstanden sein. Das ist sicher faszinierend. Aber es ist eine Sache, Bausteine zur Verfügung zu haben – etwas ganz anderes ist es, die Bausteine zu sinnvollen Informationsketten zu verbinden. Zwischen ein paar nützlichen Aminosäuren und einer funktionierenden Zelle besteht ein himmelweiter Unterschied. Welche Effekte könnten dafür gesorgt haben, dass die einfachen Aminosäure-Verbindungen (Monomere) im Wasser nicht wieder zerfielen oder verunreinigt wurden? Welche Aufgaben könnten sie erfüllt haben und inwiefern hatten sie dadurch einen evolutionären Vorteil? Diese und ähnliche Fragen werden wahrscheinlich den Arbeitsplatz vieler genialer Molekular-Biologen über Jahrzehnte sichern. Um noch einmal Bryson zu zitieren: „Monomere werden nicht zu Polymeren, wenn man sie nass macht – außer bei der Entstehung des Lebens auf der Erde. Wie das damals geschah und warum es ansonsten nicht geschieht, ist eine der großen unbeantworteten Fragen der Biologie“ (Eine kurze Geschichte von fast allem, S. 368). Die Herkunft der ersten Zellen oder gar einer einzigen, hypothetischen Ur-Zelle, in der alles Leben vorprogrammiert war, bleibt ungewiss.
Ein großer Schritt für die Menschheit
Nehmen wir der Einfachheit halber an, das Leben sei auf rein naturalistischem Weg (ohne schöpferischen Eingriff) von den ersten Aminosäuren bis hin zu höheren Lebensformen erklärbar. Anatomisch gesehen wäre dann der letzte größere Evolutions-Sprung der Übergang von den aufrecht gehenden Menschenaffen Australopithecus zur Gattung Homo. Es gibt ein paar Kandidaten, die aufgrund ihrer Gehirnkapazität als Übergangsform in Betracht gezogen werden. Ein Beispiel ist der Australopithecus habilis bzw. Homo habilis. Bis heute wird darüber diskutiert, ob diese Form eher zu den Australomorphen oder zum Menschen gehört und welcher Name entsprechend der Richtige ist. Erschwert wird das ganze dadurch, dass die Größe des Gehirns auch von anderen Faktoren abhängig ist: „Das Gehirn wird tendenziell umso größer, je kühler das Klima ist, und umgekehrt.“ (Junker & Scherer, S. 296). Die kognitive Leistungsfähigkeit einer frühen Menschen-Art lässt sich also nicht unmittelbar an ihrer Gehirngröße ablesen.
Allen Unsicherheiten zum Trotz gibt es einen groben Konsens: Die meiste Zeit der menschlichen Geschichte war eine Menschen-Art besonders dominant: Homo erectus. Zwar wird diese Art von manchen Forschern in kleinere Untergruppen aufgeteilt (z. B. in Homo heidelbergensis, Homo antecessor, usw.), aber all diese Arten lassen sich auch als Varianten innerhalb der großen erectus-Gruppe deuten.
Homo erectus ist der Urmensch schlechthin. Sein Name bedeutet einfach nur aufgerichteter Mensch. Das ist leicht zu merken, da bei der Erektion dasselbe mit dem männlichen Geschlechtsteil geschieht. Viele populär gewordene Knochenfunde zählen zu Homo erectus, darunter der Java-Mensch und der Peking-Mensch. Aufgrund der Fossilfunde und ihrer zeitlichen Einordnung mittels radiometrischer Datierung glauben die meisten Fachleute, dass sich Homo erectus vor etwa 2 Millionen Jahren aus den Australopithecus-Arten entwickelt hat. In jedem Fall belegen diese alten Knochen die Existenz einer Menschenrasse, die vor uns war. Das Unterscheidungs-Kriterium ist der aufrechte Gang. Weitere Merkmale von Homo erectus sind sein kräftiges Skelett, dicke Schädelknochen sowie die ebenso charakteristischen wie rätselhaften Überaugenwülste. Die Länge ihrer Rückgratwirbel lässt darauf schließen, dass sie auch sprechen konnten. Die bis zu 1,80 Meter großen Kreaturen waren in der Lage, Steinwerkzeuge (Faustkeile) herzustellen und beherrschten das Feuer zum Aufwärmen und Kochen.
Das Menschliche am Menschen
Lange Zeit blieb Homo erectus die dominierende Menschen-Art. Erst vor etwa 200.000 Jahren soll er sich auf zwei Kontinenten unterschiedlich entwickelt haben: In Europa evolvierte der Mensch in Homo neanderthalensis, den berühmten Neandertaler, während er in Afrika beschloss, zu Homo sapiens zu werden, unseren Vorfahren. Die Neandertaler waren zweifellos menschlich, denn sie sprachen, kleideten sich, nutzten das Feuer und legten ihren Toten Beigaben für die letzte Reise ins Grab. Die Menschwerdung müsste also irgendwo in der Karriere von Homo erectus gesucht werden. Aber wo genau? Es ist gar nicht leicht, ein Kriterium zu finden, das Mensch und Tier nicht nur graduell, sondern grundsätzlich unterscheidet. Einige Beispiele:
- Der Mensch plant voraus? Das können Tiere auch, nur eben nicht so weit.
- Der Mensch weiß, dass er sterben wird und kann Selbstmord begehen? Das würden Tiere vielleicht auch, wenn sie nur weiter vorausplanen könnten.
- Der Mensch kleidet sich aufgrund von Schamgefühl? Das trifft nicht auf alle Menschen zu.
- Der Mensch hat Humor und tut Dinge einfach nur zum Spaß? Dann beobachte mal einen jungen Schimpansen.
Der Unterschied zum Tier mag in den genannten Punkten riesig sein, aber er ist nicht grundsätzlich. Gibt es also wirklich kein Alleinstellungsmerkmal des Menschen, eine conditio humana? Vielleicht doch. Und zwar die Sprache. Dabei ist grundsätzlich zwischen Sprechen und Sprache zu unterscheiden: Auch taubstumme Menschen vermögen sich eine Sprache anzueignen – und sie können diese in Gebärden ausdrücken. Sie besitzen zwar keine Sprechfähigkeit, aber Sprache ist in ihrem Geist sehr wohl vorhanden.
All unser komplexes Denken und Planen, das über Instinkte hinaus geht, geschieht in Abhängigkeit von Sprache. Sie ist Grundlage des Bewusstseins und Ausdruck des Geistes. Der Sprachwissenschaftler Helmut Gipper formulierte es einmal so: „[…] selbst wenn, wie wir annehmen müssen, Denken und Sprache als zwei verschiedene Vermögen anzuerkennen bleiben, so muss doch betont werden, dass die Sprache vermutlich bei allen höheren Denkleistungen mitbeteiligt ist, eben weil sie unentbehrliche begriffliche Stützen, syntaktische Haltepunkte, feste geistige Strukturen bietet, an denen sich das Denken emporzuranken vermag“ (Denken ohne Sprache?, 1971, S. 35). Freilich können auch Tiere in einem sehr einfachen Sinn „denken“ und kommunizieren. Aber eine Sprache mit Grammatik und der Möglichkeit, willkürlich und unbegrenzt neue Worte zu kreieren sowie Fragen zu stellen – das ist etwas völlig anderes.
Kunst und Kultur als Ausdruck der Sprache?

Man darf wohl davon ausgehen, dass der Mensch erst durch Sprache in der Lage ist, so etwas wie Kunst hervorzubringen. In den schönen Künsten geht es ja gerade darum, Gegenstände oder Melodien in einer Weise zu formen, dass darin von einem Gegenüber eine Absicht erkannt wird. Kunstwerke sind nicht funktional, sondern vermitteln abstrakte Ideen oder Gefühle. Kunst ist damit eine ganz intensive Form der Kommunikation: Ein Bild sagt tausend Worte.
Aus vielen steinzeitlichen Fundorten kennen wir Venus-Figurinen, die eine meist wohlgenährte, nackte Dame darstellen. Die Ältesten unter ihnen wurden auf ein radiometrisches Alter von mindestens 35.000 Jahren datiert. Gut möglich, dass die frühen Homo sapiens mit den Figuren ein geistiges Konzept wie „Fruchtbarkeit“ ausdrücken wollten. Was bedeutet, dass sie ein solches Konzept auch in Sprache begrifflich fassen konnten.
Gleichermaßen beeindruckend sind die Höhlenmalereien, von denen manche bis zu 45.000 Jahre alt sein sollen. Diese Darstellungen von Tieren, Menschen und Mischwesen übertreffen meine eigenen künstlerischen Fähigkeiten um ein Vielfaches.
Es gibt noch deutlich ältere Funde, die als Indiz für ein hohes geistiges Niveau von Homo erectus gelten dürfen. In einer Ausgrabungsstätte in Schöningen (Niedersachsen) wurden steinzeitliche Hochleistungsspeere gefunden, die modernen Wurfspeeren in nichts nachstehen und ein radiometrisches Alter von etwa 300.000 Jahren aufweisen. Um das Schwerpunktzentrum und die optimale Dicke dieser Waffen so präzise zu schnitzen, ist intensive Planung und viel Geduld vonnöten.
Aber es kommt noch härter: In Bilzingsleben (Thüringen) wurde der Schienbein-Knochen eines Waldelefanten gefunden, auf den fächerförmige Linien eingeritzt wurden. Nicht wenige Paläontologen gehen davon aus, dass es sich hierbei um einen Mondkalender handelt, dessen radiometrisches Alter ca. 400.000 Jahre beträgt. Wer ein Interesse am Lauf der Gestirne hat und diese über einen längeren Zeitraum nachverfolgt, kann zumindest zählen und ist sehr wahrscheinlich auch des Sprechens mächtig.
Wie ist Sprache entstanden?
Wie sich die Sprache beim Menschen entwickelt hat, ist eine weitere, heiß diskutierte Frage. Intuitiv könnte man annehmen, dass die Frühmenschen zunächst Dingen oder Bedürfnissen einfache Laute zuordneten, die ihre Artgenossen zu verstehen lernten. Die nächste Generation konnte dann bereits auf diesen einfachen „Wortschatz“ zurückgreifen und ihn ausbauen. In einem weiteren Schritt könnten Aufforderungen in Laute umgesetzt worden sein, womit der Imperativ und damit die Grammatik ihren Anfang nahm. Es ist verlockend, sich die Sprachentwicklung des Menschen so vorzustellen, wie ein Kleinkind sprechen lernt. Aber so einfach ist es nicht.

Im Gegensatz zu den Frühmenschen wird ein modernes Menschenkind bereits in ein funktionierendes Sprachsystem geboren, das es eigentlich „nur noch“ nachmachen muss. Der Spracherwerb muss sogar innerhalb der ersten zehn Lebensjahre stattfinden. Innerhalb dieses Zeitraums ist das kindliche Gehirn in der Lage, jede menschliche Sprache akzentfrei zu erlernen, völlig egal, aus welcher Kultur die Eltern stammen. Wird das Zeitfenster jedoch verpasst, ist der Mensch selbst unter größten Anstrengungen nicht mehr in der Lage, die Grammatik irgendeiner Sprache zu erlernen. Ein trauriges Beispiel dafür sind die so genannten Wolfskinder, die in der Wildnis von Tieren großgezogen wurden. Sie konnten auch nach ihrer Integration in die menschliche Gesellschaft nur einfache Worte bilden und blieben mehr oder weniger auf dem geistigen Niveau von Tieren.
Der Theologe und Sprachwissenschaftler Roger Liebi erklärte: „Es fällt auf, dass erstaunlich viel zu gute Ergebnisse aus dem Kind herauskommen im Vergleich zu dem, was hineingegeben wird. Wenn man die theoretische Zahl der Fehlermöglichkeiten in Betracht zieht, ist es geradezu frappant wie wenig grammatische Fehler Kleinkinder machen. Das fällt uns einfach zu wenig auf, weil wir derart an das Wunder des kleinkindlichen Spracherwerbs gewöhnt sind […]. Dieses drastische Ungleichgewicht von „Input“ und „Output“ kann insbesondere in den Fällen eindrücklich demonstriert werden, wo Kinder von ihrer Umwelt nur wenig, zudem ungepflegte und schlechte Sprache zu hören bekommen, und wo sie dennoch in der Lage sind, in kürzester Zeit sich eine im Prinzip vollständige Grammatik anzueignen. Diese Beobachtungen haben dazu geführt, dass man sich in der Psycholinguistik gezwungen sah, von einer grammatikalischen Vorstrukturierung im Geist des Menschen auszugehen. […] Ich schlage vor, zurückhaltend von einer universalen Grammatik-Prädisposition zu sprechen […]. Es ist nämlich klar, dass Kinder, die keinen sprachlichen Input von ihrer Umwelt bekommen, nie selber eine Sprache entwickeln“ (Herkunft und Entwicklung der Sprachen, 2003, S. 65f, Hervorhebungen von mir). Das heutige Sprechenlernen von Kindern und die erstmalige Entstehung von Sprache sind also zwei völlig verschiedene Dinge.
Im menschlichen Gehirn gibt es zwei Regionen, die sozusagen die Hardware für die Sprach-Software bilden: Das Broca-Areal für die Sprachproduktion und das Wernicke-Areal zum Sprachverständnis. Tieren fehlen beide Hirnregionen vollständig. Nicht einmal Schimpansen, Gorillas oder Orang-Utans, unsere nächsten Verwandten im Tierreich, verfügen über diese neuronalen Voraussetzungen zum Spracherwerb. Deren Laut-Äußerungen werden stattdessen durch das Limbische System gesteuert, einer Art Gefühlszentrum. Wie es bei den ausgestorbenen Australopithecus-Arten war, lässt sich leider nicht sicher sagen: „Eine eindeutig menschliche Konstellation in Furchenmuster und Gehirnasymmetrie lässt sich erst bei Homo erectus zweifelsfrei nachweisen“ (Junker & Scherer, S. 289). Der hypothetische Spracherwerb von Australopithecus müsste ein stetes Wechselspiel gewesen sein zwischen der Ausprägung der benötigten Hirnregionen und der aktiven Nutzung immer komplexerer Worte und Sätze. Ist das eine realistische Annahme? In dieser Frage stehen sich bis heute im Grunde zwei Sprachentstehungs-Theorien gegenüber:
Johann Peter Süssmilch (1707–1767) war der Überzeugung, dass der Mensch sich ein Sprachsystem nur aneignen konnte, wenn er bereits zu höherem Denken in der Lage war. Die Etablierung von Grammatik setzt enorme Zielorientierung und Bewusstsein voraus. Dieses höhere, selbstreflektierte Denken, so Süssmilch, sei aber nur auf Basis von Sprache möglich. Wir haben es mit einem Paradoxon zu tun: Höheres Denken braucht Sprache, und Sprache braucht höheres Denken. Der Mensch müsse beides auf einen Schlag als Komplett-Paket erworben haben. Für Herr Süssmilch lag die einzige Lösung in einem Geschenk Gottes.
Dem entgegnete Johann Gottfried Herder (1744–1803) in seiner Schrift Abhandlung über den Ursprung der Sprache (1772), der Mensch habe ganz von sich aus die Fähigkeit zur Selbstreflexion – auch ohne bereits vorhandene Sprache. Im Gegensatz zu Tieren besitze er eine Freiheit, die es ihm ermöglicht, nicht nur intuitiv zu denken, sondern absichtsvoll und willkürlich. Diese „Besonnenheit“, wie Herder es nannte, befähige den Menschen, aus den Lauten der Natur einen Wortschatz zu generieren. Jedes Ding sei vom Menschen ursprünglich nach dem Klang bezeichnet worden, den es macht. Wie die Besonnenheit des Menschen entstanden ist und wie sie neuronal verankert ist, bleibt offen. Auch der Schritt von einfachen Laut-Ding-Beziehungen hin zu einer komplexen Grammatik ist in seiner Theorie nicht nachvollziehbar.
Ob es dem Menschen tatsächlich möglich war, Sprache nach und nach zu entwickeln, können wir indirekt überprüfen: Durch einen Vergleich der ältesten Sprachen mit modernen Sprachen.
Grammatik: Evolution oder Degeneration?
Auf Keilschrift-Tontafeln, die bis ins 4. Jahrtausend v. Chr. zurückreichen, ist uns die älteste bekannte Sprache der Menschheit überliefert: Eme-ĝir, die faszinierende sumerische Sprache Mesopotamiens. Evolutionsgeschichtlich wäre ein sehr simples Sprachsystem zu erwarten. Aber weit gefehlt: „Das sumerische Verbalsystem besitzt eine überaus komplexe und extrem komplizierte Struktur. Es steht eine überwältigend große Zahl von Präfixen, Infixen und Suffixen zur Verfügung. Mit Hilfe dieser sprachlichen Elemente können Verbalinhalte auf äußerst präzise Art und Weise zum Ausdruck gebracht werden. So gibt es z. B. Morpheme, durch die Person, Zahl, Tempus […], Modus (Indikativ, Optativ, Prohibitiv, Prekativ, Kohortativ, Prospektiv, Imperativ) und Diathese (aktiv, passiv, reflexiv) bezeichnet werden. […] Es gibt auch Möglichkeiten, Intensität, Richtung, Relation und Objektsbeziehung der Handlung durch gebundene Morpheme zu verdeutlichen. Die Reihenfolge der Kettenbildung geschieht nach streng festgelegten grammatikalischen Regeln. Es können Tausende von verschiedenen Verbalformen gebildet werden!“ (Herkunft und Entstehung der Sprachen, S. 167). Die ähnlich alte akkadische Sprache besitzt ebenfalls – besonders in den frühen Sprachstufen – einen gigantischen Formenreichtum.
Im Vergleich dazu wirken die 32 Verbalformen der deutschen Sprache geradezu lachhaft, obwohl das Deutsche noch eine der komplexeren modernen Sprachen ist. Selbst wenn wir nur einen kleinen Ausschnitt der Sprachgeschichte berücksichtigen, ist der Verfall offensichtlich. Wer einmal das Vergnügen hatte, einem althochdeutschen Text lauschen zu dürfen, wird sofort einsehen, dass der Formenreichtum darin deutlich größer ist. In diesem Zusammenhang ist das Ägyptische besonders wertvoll: Diese Langue kann über einen Zeitraum von fast 5.000 Jahren studiert werden, denn bis heute wird in manchen Dörfern Oberägyptens eine moderne Variante davon gesprochen: Koptisch. Im Ergebnis lernen wir, dass „der Formenbestand im Verlauf der ägyptischen Sprachgeschichte stetig abnahm und nie größer wurde!“ (Herkunft und Entstehung der Sprachen, S. 208).
Diese Beobachtungen sind ein starkes Argument gegen die Herder’sche Theorie, nach der die Sprachentwicklung eine Aufwärtsbewegung haben müsste. Stattdessen beobachten wir eine drastischen Abwärtstrend. Liebi bringt es treffend auf den Punkt: „Schweizer, Deutsche, Engländer und Amerikaner etc. haben es im Atomzeitalter des 20. Jahrhunderts nicht geschafft, ihre Sprache auch nur durch eine einzige synthetische Verbalform zu erweitern. Wie sollen dann Urmenschen es fertig gebracht haben, im ausgehenden Chalkolithikum, den Sumerern, Akkadern und Ägyptern solche Sprachen zu vermitteln, die von synthetischem Formenreichtum nur so strotzen? Es ist völlig illusorisch, an so etwas zu glauben“ (Herkunft und Entstehung der Sprachen, S. 185).
Schlussfolgerung
Rein biologisch betrachtet mag sich das Leben durch Selektion und Mutation seinen Weg gebahnt haben. Zwar versetzen uns gewisse Wendepunkte der Evolutionsgeschichte in Ratlosigkeit und Staunen – die erste Zellentstehung oder die kambrische Explosion – aber andererseits gibt es auf molekularer und genetischer Ebene noch derart viele unerforschte Bereiche, dass wir keine sicheren Aussagen treffen können. Vielleicht hat Gott hier noch mal bewusst eingegriffen – oder er tat es nicht.
Das sieht in der Linguistik anders aus. Soweit ich die Situation beurteilen kann, ist die Entwicklung vorhandener Sprache recht gut erforscht. Wenn wir den offensichtlichen Abwärtstrend der Sprachentwicklung in die Vergangenheit extrapolieren, führt uns das zu immer höherer, geistiger Komplexität und letztlich zu einer höheren Macht als Quelle jeder Grammatik. Für das Modell der theistischen Evolution ist das ein fantastischer Ansatz: Wenn der eigentliche Schöpfungsakt der Moment der Sprachgebung ist, spielt es gar keine so große Rolle mehr, ob sich der Mensch in einem Millionen Jahre währenden Prozess aus Tieren heraus entwickelt hat, oder ob er als eigene Art direkt von Gott erschaffen wurde. Homo erectus könnte Hunderttausende von Jahren als Halbaffe herumgelaufen sein, während derer er die neuronalen Voraussetzungen für simple Sprachbildung und Sprachverständnis entwickelte. Am Anfang seiner langen Geschichte mag er sich mit tierähnlichen Lauten verständigt haben, während sich seine kognitiven Fähigkeiten auf „niederes Denken“ beschränkten. In diesem Dämmerzustand konnte er vielleicht ein wenig vorausplanen, aber ohne Selbstreflexion und damit ohne Selbstbewusstsein.
Ab einem bestimmten Punkt seiner Evolution, als die Hardware sozusagen bereit war, „installierte“ Gott dem Menschen die Sprach-Software, was die Weiterentwicklung zum Neandertaler und Homo sapiens in Gang setzte. Wann genau dieser hypothetische Akt der Sprachgebung anzusiedeln ist, lässt sich nur schwer abschätzen. Unter Berücksichtigung der menschlichen Anatomie war es vielleicht vor einer Million Jahren. Andere Faktoren wie das Auftreten von komplizierten Werkzeugen und Waffen sprechen für eine Zeit vor ca. 400.000 Jahren. Sieht man Sprache im Zusammenhang mit künstlerischer Ausdrucksfähigkeit, war es vielleicht vor 40.000 Jahren. Steht man der radiometrischen Datierung grundsätzlich kritisch gegenüber, könnte es auch erst ca. 10.000 Jahre her sein. Im Rahmen des Kreationismus würde die Sprachgebung freilich mit der direkten Erschaffung der ersten Menschenkörper („Adam und Eva“) zusammenfallen.
In der Schöpfungserzählung der Bibel wird zunächst der Körper des Menschen aus Erde geformt. Dieser Schritt ließe sich gut mit der Evolutionsgeschichte gleichsetzen. Die moderne Wissenschaft behauptet nichts anderes; das Hervorgehen des Menschen aus der Erde wird lediglich als langwieriger Prozess über viele Zwischenstufen gesehen. Zu einem lebendigen Menschen wird er aber erst durch die göttliche Komponente, den „Atem des Lebens“:
„Da bildete der HERR, Gott, den Menschen [aus] Staub vom Erdboden und hauchte in seine Nase Atem des Lebens; so wurde der Mensch eine lebende Seele.“
Genesis 2,7 ELB

Der Atem Gottes entspräche dann dem plötzlichen Erwachen von Sprache und Bewusstsein als krönendem Abschluss der Schöpfung.
Das biblische Gottesbild ist stark von dem Gedanken geprägt, dass alles, was vom Schöpfer auf die Schöpfung einwirkt, letztlich manifestierte Worte sind. Gott ruft die Welt ins Dasein (Genesis 1,3), Gott offenbart sich seinen Propheten durch das Wort des HERRN (1. Samuel 3,21) und Jesus Christus wird als der personifizierte, göttliche Logos (Johannes 1,1) vorgestellt; eine Art universales Vernunfts-Prinzip, durch das die Welt besteht. Es wäre nur konsequent, wenn das Göttliche im Menschen sein sprachgebundenes Denken ist. Schließlich ist Sprache auch die Grundlage jeden Gebetes, durch das der Mensch in Kontakt mit dem Ewigen treten kann.
Sprache ist des Menschen Zugang zur geistigen Welt und der Beginn seiner Verantwortung vor Gott.