Vom Biss des Leviathan

Die Schlange aus dem Garten Eden hat das menschliche Schuldbewusstsein geprägt wie kein zweites Tier – zu Unrecht. Wie ein interkultureller Vergleich beim Verständnis der Paradies-Geschichte helfen kann und nebenbei den Ursprung des Bösen aufzudecken versucht.

Die Schuldfrage neu gestellt

Adam, Eva, die Schlange und der verhängnisvolle Baum. (c) Jeff Jacobs, Pixabay.com

Im zweiten Kapitel des Buches Genesis erfährt man, wie Gott den Menschen erschafft und in einen Garten setzt, der kaum Wünsche offen lässt. Zwei besondere Bäume standen darin: Der Baum des Lebens und der Baum der Erkenntnis. In einem früheren Beitrag habe ich dargelegt, dass die beiden Bäume sehr gut als zwei Aspekte eines einzigen, großen Weltenbaums interpretierbar sind. Dieser Baum ist ein Bild unseres Lebens. Je nach dem, was uns bestimmt, gleicht es eher dem Lebensbaum oder dem Erkenntnisbaum.

Vor dem Baum der Erkenntnis warnt der Schöpfer: Seine Frucht führe zum Tod. Gemeint ist des Menschen Versuch, in Selbstbestimmung und Unabhängigkeit von Gott zu leben. Wir meinen, selbst am Besten zu wissen, was gut für uns ist. Leider ist das ein Irrtum, dessen Folgen wir tagtäglich am eigenen Leib erkennen.

In der Geschichte tritt nun seltsamerweise eine sprechende Schlange auf den Plan und bringt Adam und Eva dazu, vom Erkenntnisbaum zu naschen. Ihre Strategie dabei ist bemerkenswert: Sie stellt Gottes Warnung maßlos überzogen dar, um ihn wie einen Spießer aussehen zu lassen, der den Menschen nichts gönnen will.

In der jüdischen Bibel klingt das so:

„Und die Schlange war listiger als alle Tiere des Feldes, die der HERR, Gott, gemacht hatte; und sie sprach zu der Frau: Hat Gott wirklich gesagt: Von allen Bäumen des Gartens dürft ihr nicht essen? Da sagte die Frau zur Schlange: Von den Früchten der Bäume des Gartens essen wir; aber von den Früchten des Baumes, der in der Mitte des Gartens [steht], hat Gott gesagt: Ihr sollt nicht davon essen und sollt sie nicht berühren, damit ihr nicht sterbt!

Da sagte die Schlange zur Frau: Keineswegs werdet ihr sterben! Sondern Gott weiß, dass an dem Tag, da ihr davon esst, eure Augen aufgetan werden und ihr sein werdet wie Gott, erkennend Gutes und Böses.“

Genesis 3, 1-5 (ELB)

Zunächst bleibt die Frau locker und stellt Gottes Anweisungen richtig. Doch die Schlange legt mit einer glatten Lüge nach – „Keineswegs werdet ihr sterben!“ – und Eva knickt ein. Im Anschluss reicht sie auch Adam von der Frucht, der der Verlockung direkt nachgibt.

Die unmittelbaren Folgen sind erstaunlich. Die Schlange hatte insofern Recht, dass die Menschen nicht sofort tot umkippen. Eine Lüge war es trotzdem, denn mit „Sterben“ war offensichtlich ein Prozess gemeint, der erst nach einer gewissen Zeit zum Tod führt. Jedenfalls scheint der Bibeltext sagen zu wollen, dass sich durch den Verzehr der Erkenntnisfrucht unsere Lebensqualität derart verändert hat, dass es mehr mit Sterben zu tun hat als mit Leben.

Ängstliche Menschen, versteckt zwischen Bäumen. (c) Shujon Moral, Pixabay.com

Noch etwas ist geschehen: „Da wurden ihrer beider Augen aufgetan, und sie erkannten, dass sie nackt waren“ (Genesis 3,7). Ich bin davon überzeugt, dass mit der Nacktheit das Bewusstsein der eigenen Verletzlichkeit gemeint ist. Wenn wir unsere eigenen Entscheidungen unabhängig von Gott treffen wollen, müssen wir auch für unsere eigene Sicherheit sorgen. Doch wann sind wir genug abgesichert? Wem können wir noch vertrauen? Wir müssen uns schützen, damit niemand unsere Scham, Verzeihung, unsere Schwächen sieht und ausnutzt! Wir müssen uns kleiden, rüsten, aufrüsten, bewaffnen! „Da versteckten sich der Mensch und seine Frau vor dem Angesicht des HERRN, Gottes, mitten zwischen den Bäumen des Gartens“ (Genesis 3,8b ELB).

Die Erkenntnis von Gutem und Schlechtem meint unser Leben in Selbstbestimmung, das untrennbar einhergeht mit einem grundsätzlichen Misstrauen Gott gegenüber. Könnte er uns etwas vorenthalten? Meint er es wirklich gut mit uns? Die Selbstbestimmung an sich mag man als „gut“ bezeichnen, doch das Misstrauen ist definitiv schlecht.

Was folgt, ist eine Orgie der Schuldzuweisung. Als die Menschen auf ihr Handeln angesprochen werden und Verantwortung gefragt wäre, zeigt der Mann auf die Frau, und die Frau zeigt auf die Schlange. Wir kennen das aus dem Kindergarten. Und aus dem Bundestag. Eigentlich von überall, wo Menschen zusammen sind. Sich Schuld einzugestehen, ist ein Zeichen von Schwäche, von Nacktheit, und das muss um jeden Preis vermieden werden!

Wirklich?

Ironischerweise ist die Schuldfrage in der Paradies-Geschichte auch unter Theologen ein heftiger Streitpunkt, bei dem gern mit dem Finger auf andere gezeigt wird. Was wurde nicht schon spekuliert und vermutet, wer warum woran Schuld ist! In der Kirchengeschichte galt lange Zeit die Frau als Hauptverantwortliche für den „Sündenfall“ und wurde entsprechend abgewertet. Sie allein hätte Gottes Gebot übertreten und zuerst vom Erkenntnisbaum genommen. Adam wurde fast schon als armes Opfer weiblicher Verführungskünste betrachtet.

Bis einem auffiel, dass Adam die ganze Zeit dabei stand, als Eva von der Schlange verführt wurde. Jedenfalls wird dieser Satz so verstanden: „Sie nahm von der Frucht und aß, und sie gab auch ihrem Mann bei ihr, und er aß“ (Genesis 3,6b ELB). Er hätte eingreifen müssen! Außerdem war Eva noch gar nicht erschaffen, als der ursprüngliche Rat Gottes gegeben wurde. Eva konnte nur aus zweiter Hand von Adam davon gewusst haben, und deshalb sei die Schuld in erster Linie bei ihm zu suchen. Er hatte das Gebot schließlich direkt von Gott gehört.

Die Schlange von Eden (c) Creationmuseum.org

Wieder andere sehen die Hauptschuld bei der Schlange. Ohne deren Einfluss, so nimmt man an, wären Adam und Eva gar nicht auf die Idee gekommen, von der Erkenntnisfrucht zu kosten.

Doch meine Vermutung ist, dass die Suche nach dem Schuldigen grundsätzlich am Sinn des Textes vorbeigeht. Es geht in der Geschichte nicht darum, einen Sündenbock für alles Schlechte (die „Sünde“) in der Welt zu finden. Sondern es geht darum zu verstehen, wie Menschen funktionieren und was uns antreibt. Die Erzählung will uns das eigene Leben spiegeln und hinterfragen, ob die Motivation unseres Handelns richtig ist. Egal, wen du als Hauptschuldigen identifiziert hast: Betrachte diese Person fortan nicht als bösen Gegenspieler, sondern sieh dich selbst darin. Wir alle greifen in unserem Leben nach dem Erkenntnisbaum, weil wir unser eigener Herr sein wollen. Und wir alle haben seitdem Angst um unsere Sicherheit.

Meiner Erfahrung nach ziehen wir den größten Nutzen aus der Geschichte, wenn wir die Schlange als einen menschlichen Trieb in uns verstehen. Sie ist ein Aspekt unserer Freiheit. Sie stellt die Möglichkeit dar, alles zu tun, was uns beliebt. Sie gehört zum Mensch-Sein dazu, aber wir müssen nicht zwangsläufig auf sie hören. Wir können auch so frei sein, und unser animalisches Verlangen kontrollieren. Der Geist kann über das Fleisch siegen, auch wenn es uns in aller Regel nicht gelingt.

Man könnte auf die Idee kommen, die Schlange als das „Böse in uns“ zu sehen. Aber das ist zu kurz gedacht. Das Reptil verkörpert weit mehr. Doch ihre volle Tragweite kann die Geschichte erst entfalten, wenn wir verstanden haben, warum ausgerechnet eine Schlange als Antagonist gewählt wurde. Hätte ja auch ein sprechendes Eichhörnchen sein können.

Die Herrin des Lebens

Eine gehörnte Viper, fotografiert in Israel

Direkt am Beginn der so genannten Versuchungs-Geschichte erfahren wir ein wichtiges Detail: „Die Schlange war listiger als alle Tiere des Feldes“ (Genesis 3,1, ELB). Das Wort listig wirkt an dieser Stelle wie ein Vorurteil, denn man assoziiert damit sofort Betrug und Hinterlist. Eine neutrale Übersetzung wäre klug, vernünftig oder schlau. Die Bedeutung des hebräischen Wortes ערום („arum“) geht aber noch tiefer. Es handelt sich nämlich um ein Wortspiel mit עירם („erom“) – das bedeutet nackt und ist gewiss eine Anspielung auf die Nacktheit des Menschen, die ihm nur wenige Verse später offenbar wird. Die Bibel in gerechter Sprache gibt das Wortspiel im Deutschen unschlagbar kreativ wieder: „Die Schlange hatte weniger an, aber mehr drauf als alle anderen Tiere des Feldes“ .

Aber warum ist die Schlange klüger? Einfach deshalb, weil sie das Geheimnis des Lebens kennt. Die Schlange kann sich häuten und scheinbar ihren alten Körper hinter sich lassen. Sie weiß, wie man wieder jung wird! Im Gilgamesch-Epos (18. Jahrhundert v. Chr.) wird die Macht der Schlange dramatisch inszeniert: Der König von Uruk bereist auf der Suche nach ewigem Leben alle Enden der Welt. Er begegnet Skorpion-Menschen, überquert den See der Unterwelt, lauscht den Lehren des weisen Sintflut-Helden Uta-napischtim und findet zuletzt wirklich das Kraut des Lebens auf dem Grund des Ozeans. Doch auf der Heimreise wird Gilgamesch von Müdigkeit übermannt. Während er schläft, kriecht eine Schlange herbei, verschlingt das Lebenskraut und wirft sogleich ihre alte Haut ab – der Beweis ewiger Jugend. Der König kehrt mit leeren Händen in seine Stadt zurück, wissend, eines Tages sterben zu müssen, doch als weiser und demütiger Herrscher. Er gewann Erkenntnis, doch das Leben blieb ihm verwehrt.

Dass die Schlange als Herrin des Lebens galt, wird auch in einer biblischen Geschichte deutlich. Es begab sich, als das Volk Israel unter Mose durch die Wüste zog, dass sie einer Schlangen-Plage zum Opfer fielen. Viele starben, bis Mose bei Gott um Gnade flehte.

„Und der HERR sprach zu Mose: Mache dir eine Schlange und tu sie auf eine Stange! Und es wird geschehen, jeder, der gebissen ist und sie ansieht, der wird am Leben bleiben. Und Mose machte eine Schlange von Bronze und tat sie auf die Stange; und es geschah, wenn eine Schlange jemanden gebissen hatte und er schaute auf zu der ehernen Schlange, so blieb er am Leben.“

4. Buch Mose (Numeri) 21, 8+9 (ELB)
Der Stab des Äskulap (c) Gordon Johnson | Pixabay.com

Die Schlange, die sich um einen Stab oder einen Baum windet, ist bis heute das Symbol der Medizin. Der Stab des Äskulap, des griechischen Gottes der Heilkunst, ist das Aushängeschild vieler Apotheken. Schon immer war die Unsterblichkeit oder zumindest die ewige Jugend der Traum vieler Menschen und das ungeschriebene Ziel der Medizin. Wir erheben Ärzte zu Göttern in Weiß und verlangen von ihnen, uns vor dem Exitus zu bewahren. Der Tod muss überlistet werden, koste es was es wolle!

Die Schlange von Eden behauptet, einen schnellen, einfachen Weg zum ewigen Leben zu kennen, ohne durch den Tod zu müssen. „Keineswegs werdet ihr sterben!“ versichert sie, und ihr Standpunkt ist deshalb so verlockend, weil sie sich mit dem Leben auskennt. In der Vorstellung unserer Ahnen ist sie ein kompetenter und vertrauenswürdiger Ansprechpartner in puncto ewiger Jugend. Übertragen auf unser Leben stellt sie den Versuch dar, das Leben zu kontrollieren.

Doch ach: Die Schlange ist noch in anderer Hinsicht Herrin über das Leben. Sie kann es auch nehmen.

Von Wirkung und Inkubationszeit der Sünde

Wer von einer Giftschlange gebissen wird, stirbt einen schmerzvollen, hässlichen Tod, der manchmal erst Stunden oder Tage später eintritt. Das Tier blitzt innerhalb von Sekunden aus dem Unterholz hervor und hinterlässt ohne großen mechanischen Aufwand an der Einstichstelle nur zwei winzige rote Punkte. Manch ein Opfer bemerkt die völlig unscheinbare Attacke nicht einmal, doch das injizierte Toxin kann stark genug sein, um dutzende erwachsene Männer niederzustrecken.

Viele Entscheidungen, die wir treffen, mögen einen Moment lang gut aussehen, während ihre negativen Folgen erst Tage, Monate oder Jahre später auftauchen. Ich kann jetzt fremdgehen und jahrelang mit einem schlechten Gewissen und/oder einer zerbrochenen Ehe kämpfen. Ich kann jetzt einen über den Durst kippen und morgen mit Brummschädel über der Latrine hängen.

Eine personale Darstellung des Satans (c) The Bible Miniseries von Roma Downey & Mark Burnett

Diese schlechten Entscheidungen, die Gottes Versorgungsplänen im Luxusgarten zuwiderlaufen, nennt die Bibel Sünde. Und Sünde wirkt wie Schlangengift. Wir wollen von der Schlange jetzt sofort ein Leben nach unseren Vorstellungen haben; deshalb hören wir auf sie, aber im Endeffekt verlieren wir dadurch Lebensqualität. Die Schlange stellt uns tolle Früchte in Aussicht, und dann beißt sie uns unbemerkt in die Ferse. Das Tier am Paradiesbaum muss eine Schlange sein. Sie ist das perfekte Bild für das menschliche Innenleben.

Vielleicht ist dir, lieber Leser, bereits aufgefallen, dass der Teufel bzw. der Satan bisher keine Rolle spielte. Dafür gibt es Gründe. Denn der Satan wird in der ganzen Genesis überhaupt nicht erwähnt. Auch nicht im Rest der Torah. Die Idee, die Schlange sei eine Manifestation des Satans, wird innerbiblisch erst im letzten Buch des Neuen Testaments ausgedrückt, in der Johannes-Apokalypse aus dem 1. oder 2. Jahrhundert n. Chr. (Offenbarung 12,9 + 20,2). Aufgrund dessen nehmen viele Bibelforscher an, man hätte in der Paradies-Schlange nur rückblickend die Machenschaften des Teufels erkannt. Die Schlange von Eden habe dann ursprünglich nur als Stilmittel gedient, um den Gewissenskonflikt im Menschen darzustellen. Aber so einfach ist es nicht.

Die Frage, ob die Schlange einen Trieb in uns darstellt oder eine dämonische Macht außerhalb von uns, ist unter Theologen bis heute Brennstoff hitziger Debatten. Glücklicherweise könnten neuere Forschungsergebnisse Licht ins Dunkel bringen.

Wie bist du vom Himmel gefallen!

In dem aufschlussreichen Werk Adam, Eve, and the Devil – A New Beginning (2015) stellen Marjo Korpel und Johannes de Moor zwei Tontafeln vor, die aus dem kanaanäischen Stadtstaat Ugarit im heutigen Nordwest-Syrien stammen. Sie enthalten Bruchstücke einer Tradition, die man als adamitischen Mythos bezeichnen kann. Ugaritisch und Hebräisch sind eng verwandte Sprachen, und so wundert es nicht, dass das ugaritische Narrativ große Gemeinsamkeiten zur hebräischen Bibel aufweist. Doch in dem Drama aus dem 13. Jahrhundert v. Chr. ist die Schlange die Ausgeburt eines rebellischen Gottes, der den Lebensbaum der Menschen zerstören will. Sie steht eindeutig für negative Einflüsse von außen. Es sieht aus, als ob die Ugarit-Texte den Hintergrund überliefern, auf dem die Genesis-Erzählung beruht. Damit erweisen sie sich als wertvolle Auslegungs-Hilfe.

Die genannten Tontafeln (KTU 1.100 und 1.107) sind schwer beschädigt, können aber großteils wiederhergestellt werden. Aufgrund mancher Parallele zur Phönizischen Geschichte des Herennios Philon von Byblos lassen sich sogar ganze Handlungsstränge ergänzen, die auf den Ugarit-Tafeln vollständig fehlen. Unter der Bedingung, dass die Rekonstruktion richtig ist, ergibt sich folgender Plot:

In grauer Vorzeit rebellierte die kanaanäische Gottheit Horanu (Horon) gegen den obersten Gott Ilu (El) und wollte dessen Platz einnehmen. Das Unterfangen scheiterte, worauf Horanu, auch genannt der Prinz (šr), aus dem Himmel verstoßen und zur Erde in den Weingarten der Götter hinabgeworfen wurde. Im biblischen Jesaja-Buch finden wir wahrscheinlich eine hebräische Erinnerung an den monumentalen Fall:

„Wie bist du vom Himmel gefallen, du Glanzstern [Helel], Sohn der Morgenröte! [Wie bist du] zu Boden geschmettert, Überwältiger der Nationen! Und du, du sagtest in deinem Herzen: ‚Zum Himmel will ich hinaufsteigen, hoch über den Sternen Gottes meinen Thron aufrichten und mich niedersetzen auf den Versammlungsberg im äußersten Norden.‘

Jesaja 14, 12+13 (ELB)
Der glänzende Morgenstern wird zum Satan. Illustration von Gustave Doré (1866).

Zwar schreibt der Prophet vordergründig von einem König Babylons, doch wurde schon lange vermutet, dass hintergründig eine dämonische Macht angesprochen wird. Das hebräische Wort helel (Glanzstern, lat. lucifer) enthält die gleiche Wortwurzel wie die ugaritische Gottheit Hilalu, die nach Meinung von Korpel und De Moor identisch ist mit Horanu (S. 24ff). Der Name Horanu lässt sich auf das hebräische Verb hrr zurückführen; kombiniert mit der typisch ugaritischen Endung -anu. Bedeuten würde das ungefähr „der Lodernde“ oder „der Leuchtende“. Horanu ist der ugaritische Luzifer, der Lichtbringer (S. 54)!

Der finstere „Gott“ Horanu war der Vater aller Schlangen und wurde wahrscheinlich selbst als monströse Schlange dargestellt (S. 17). Seine Residenz lag in der Unterwelt, doch im Gegensatz zum kanaanäischen Todesgott Motu hatte Horanu Zugang zur Sphäre der Menschen und war auch nicht grundsätzlich deren Feind. Er wurde sogar um Heilung bei Schlangen- oder Skorpionbissen angerufen.

Der in Ungnade Gestürzte fand sich also im Weingarten der Götter wieder, und dort stand der überdimensionale Baum des Lebens. Um Rache an den Göttern zu nehmen, ließ Horanu seinen „Nachwuchs“, die riesige Seeschlange Lotanu, auf den Baum los. Die Bestie umschlang den Baum und vergiftete ihn, sodass er zu einem Baum des Todes wurde und sich ein Giftnebel über die ganze Erde legte. Die Sünde durchdringt alles!

Beschrieben wird das knorrige Gestrüpp in diesem Zustand zu jeweils einem Drittel als Wacholder, Weinrebe und Dattelpalme. Auf vielen altorientalischen Siegeln wurde der Lebensbaum als Dattelpalme dargestellt, was bedeutet, dass im Todesbaum noch ein Drittel des alten Lebensbaums erkennbar war (S. 44).

Das berühmte „Adam-und-Eva“-Siegel: Eine Frau und ein Gott strecken ihre Hand nach einer Dattelpalme aus. Hinter ihnen windet sich eine Schlange. (ca. 2200 v. Chr., British Museum, BM 89326)

So ergibt sich das Bild vom Weltenbaum, dem eine Schlange innewohnt. Der Satan ist aber nicht die Schlange, sondern ihr Meister.

Die theologische Diskussion lässt sich damit ein Stück weit entschärfen: Sehr wohl steht in der Erzählung hinter der Schlange eine externe, dämonische Macht. Und trotzdem verwendet der selbe Text die Schlange im übertragenen Sinn als Bild für unser Innenleben. Diese Spannung zwischen Lotanu und Horanu bzw. zwischen inneren und äußeren Einflüssen auf uns Menschen gibt die Wirklichkeit verblüffend authentisch wieder.

Tatsächlich finden wir uns in einer zerstörten, vergifteten Welt wieder, für die der Mensch als Individuum nichts kann. Es gibt keine „Erbsünde“ in dem Sinn, dass wir allein aufgrund unserer Natur der Ursprung von allem Bösen sind. Auf Erden geschehen viele schlimme Dinge, an denen kein Mensch Schuld hat. Ein Großteil des irdischen Unheils liegt in der Natur des erschaffenen Kosmos, der in vielen Bereichen schreckenerregend und tödlich ist. Freilich geht auch massiv Unrecht vom Menschen aus, doch davon ist wiederum das Meiste eine Reaktion auf Unrecht, das uns davor zugefügt wurde. Sünde ist eine Kettenreaktion, deren erste Ursache schwer zu fassen ist. In jedem Fall macht es Menschen nur noch mehr kaputt, wenn man ihnen ständig Schuldgefühle einredet.

Um es noch einmal mit Nachdruck zu sagen: Der Mensch wird in eine äußerst mangelhafte Welt hineingeboren, aber an diesem Zustand trägt er keine Schuld. Unsere Verantwortung liegt nur darin, was wir aus den Gegebenheiten machen.

Der verhängnisvolle Schlangenbiss

Der adamitische Mythos endet glücklicherweise nicht mit dieser deprimierenden Darstellung unserer Realität. Denn nun treten erneut die großen Götter auf den Plan. Um Lotanu zu vernichten, senden sie einen von ihresgleichen hinab in den Weinberg: Das göttliche Wesen Adammu, den ugaritischen Adam. Doch es scheint, als ob das Unterfangen nicht wie geplant aufgeht:

„[Wer] geht für uns [auf die Erde]?
[In] den Weingarten der großen Götter?
Der Held wurde erhoben,
Sie gaben die Erde in seine Hand.
Die Braue des Adammu floss [er schwitzte?],
[Die Schlange] ließ Speichel fallen, es biss [ihn]!
Sieh! Das verschlingende Maul!
Sieh! Die stechenden [Fangzähne]!
Hektisch versuchte er [es] zu lockern,
Doch das Maul der Schlange saß fest.
Er wusste nicht, wie der Beißer zu binden war,
Noch verstand er das Gift zu beherrschen.
Das Gift [erfüllte] ihn,
Fürwahr, der Zerstörer brachte ihn dazu, sich zu winden.
Das Fleisch von Šarrugazizu [fiel] […]“

KTU 1.107, Vorderseite, Zeile 1–8 (Nach Korpel & De Moor, S. 265ff, Übersetzung aus dem Englischen von mir)

Lassen wir diese Zeilen einen Augenblick wirken, denn hier wird die Auslegungsgeschichte der Genesis neu geschrieben. Wir haben nicht weniger vor uns, als eine detaillierte Beschreibung dessen, was in der späteren Religionsgeschichte als „Sündenfall“ dogmatisiert wurde.

Dass die Erde in die Hand Adammus gegeben wird, erinnert natürlich daran, wie Adam im hebräischen Text in den Garten Eden gesetzt wird, um „ihn zu bebauen und ihn zu bewahren“ (Genesis 2,15). Die Tontafel offenbart jedoch das Ausmaß seiner Mission: Adam war von Anfang an dazu bestimmt, die Schlange zu zerschmettern!

Warum der einst unsterbliche, gottgesandte Adammu in der Konfrontation mit Lotanu so miserabel abschneidet, wird nicht erläutert. Wir können nur ahnen, dass die Macht des gewaltigen Geschöpfs unterschätzt wurde. Oder wurde der Mensch so erschaffen, dass er zwangsläufig unterliegen musste? Lag es von vorn herein im Plan von El, dass Adammu von Lotanu vergiftet wird? Es bleibt spannend!

Der Mensch trägt nunmehr den Beinamen Šarrugazizu („Der Prinz ist großmütig“), womit vielleicht ein Flehen an Horanu ausgedrückt wird, die Wirkung des Giftes aufzuheben. Aber nicht nur das; mit Hilfe der Sonnengöttin Šapšu werden im weiteren Verlauf des Mythos ganze 12 Götter angerufen, den Menschen gegen Lotanu beizustehen. Es mag überraschen, dass zuletzt ausgerechnet Horanu dem Hilferuf folgt:

„Meine Anrufung lautet:
Eine giftige Schlange hat gebissen,
Eine Schlange, die ihre Haut abgeworfen hat!
Es möge ein Bezwinger des Zerstörers sein,
Es möge ein Austreiber des Giftes sein!
–––––––––––––––––––
Horanu’s Gesicht erblasste,
Denn seine Nachkommenschaft würde kinderlos bleiben.
Er verließ die Stadt im Osten.
[…]
Er entfernte den Wacholder von den Bäumen,
Ja, den Baum des Todes aus den Stauden.
Den Wacholder – Er schüttelte ihn heraus,
Das Dattel-Bündel – er nahm es weg,
Die Auswüchse – Er trug sie ab.
[…]
Das Gift ist schwach geworden wie ein Wadi,
Es ist davongeflossen wie ein Bach.“

KTU 1.100, Vorderseite, Zeile 61–69 (Nach Korpel & De Moor, S. 265ff, Übersetzung aus dem Englischen von mir)

Horanu scheint nur aus einem Grund einzuschreiten: Sein „Gesicht erblasste“, weil ihm klar wurde, dass die großen Götter den Lotanu restlos vernichten würden, sollten sie sich des Problems annehmen. Es wäre das Ende seiner zischenden „Nachkommenschaft“. Gezwungenermaßen trimmt der zwielichtige Gott die tödlichen Auswüchse des Baums. Der Lebensbaum scheint wiederhergestellt, doch die Schlange treibt weiterhin ihr Unwesen und Adammu sieht sich durch die Vergiftung auf dem Weg zum Tod. Der Mensch ist sterblich geworden.

Für dieses Problem liefern die ugaritischen Götter, inklusive Horanu, (zunächst?) nur eine bedingte Lösung: Sie bieten Adammu die Möglichkeit, durch Fortpflanzung die Unsterblichkeit indirekt zurückzugewinnen. Auf der schwer beschädigten Rückseite von Tafel KTU 1.107 lesen wir plötzlich von einer „gutmütigen Frau“ und dass „die Töchter der Menschheit den Tod besiegen“ werden. Adammu scheint hier eine Gefährtin zu bekommen. Aus anderen ugaritischen Texten (KTU 1.179, Zeile 8–9) weiß man, dass die Dame Kubaba genannt wurde. Und der Mechanismus funktioniert: Adammu, verstanden als die Menschheit, gibt es bis heute.

Damit erklärt der Mythos den Ursprung unserer Geschlechtlichkeit, den Sinn des Kinder-Gebärens und den Grund, warum wir eines Tages sterben werden. Es handelt sich um eine Ätiologie (Ursachen-Darlegung) der wichtigsten Aspekte unseres Lebens.

Verflucht seist du! Oder doch nicht?

Im Genesis-Text verläuft die Handlung etwas anders, kommt aber zum selben Ergebnis. Die Auswirkungen des Schlangengifts werden als Fluch dargestellt, unter dem die Menschen seither leiden. Zum Baum des Lebens haben sie keinen Zugang mehr:

„Und der HERR, Gott, sprach zur Schlange: Weil du das getan hast, sollst du verflucht sein unter allem Vieh und unter allen Tieren des Feldes! Auf deinem Bauch sollst du kriechen, und Staub sollst du fressen alle Tage deines Lebens! Und ich werde Feindschaft setzen zwischen dir und der Frau, zwischen deinem Nachwuchs und ihrem Nachwuchs; er wird dir den Kopf zermalmen, und du, du wirst ihm die Ferse zermalmen.

Zu der Frau sprach er: Ich werde sehr vermehren die Mühsal deiner Schwangerschaft, mit Schmerzen sollst du Kinder gebären! Nach deinem Mann wird dein Verlangen sein, er aber wird über dich herrschen!

Und zu Adam sprach er: Weil du auf die Stimme deiner Frau gehört und gegessen hast von dem Baum, von dem ich dir geboten habe: Du sollst davon nicht essen! – so sei der Erdboden deinetwegen verflucht: Mit Mühsal sollst du davon essen alle Tage deines Lebens; und Dornen und Disteln wird er dir sprossen lassen, und du wirst das Kraut des Feldes essen! Im Schweiße deines Angesichts wirst du [dein] Brot essen, bis du zurückkehrst zum Erdboden, denn von ihm bist du genommen. Denn Staub bist du, und zum Staub wirst du zurückkehren! […]

Und der HERR, Gott, schickte ihn aus dem Garten Eden hinaus, den Erdboden zu bebauen, von dem er genommen war.“

Genesis 3, 14-23 (ELB)

Auffallend ist, dass Gott (JHWH) in dieser Erzähl-Tradition als Quelle des Fluchs dargestellt wird. Die Israeliten waren – soweit wir wissen – die erste Kultur, die erkannt hat, dass es nur einen Gott gibt. Aus dem Monotheismus folgt, dass Gott stets die letzte Ursache von allem ist, auch von Giftschlangen. Deshalb wird im Bibeltext der Satan bzw. Horanu übergangen und das Unheil direkt auf Gott zurückgeführt.

Entgegen eines weit verbreiteten Missverständnisses wird der Mensch aber nicht verflucht. Lies noch einmal genau: Gott verflucht nur die Schlange und den Erdboden. Das Unheil, das über Adam und Eva kommt, ist nicht Teil des Fluchs, sondern die Tatfolge ihres eigenen Strebens nach Selbstbestimmung. Wer sein eigener Herr sein möchte, muss auch selbst für seinen Lebensunterhalt sorgen.

Adam und Eva verlassen den Garten Eden. (Illustrator unbekannt)

Das Gotteswort an die Frau klingt ziemlich hart: „Mit Schmerzen sollst du Kinder gebären!“ Es ist schwer, das nicht als Strafe zu verstehen. Doch vorsicht. Wir lesen den Text häufig so, als ob die Frau ihre Kinder bisher lächelnd und winkend zur Welt gebracht hat. Erst der zornige Gott hätte die Geburt in eine schmerzvolle Erfahrung voller Geschrei und Blut verwandelt. Doch insbesondere vor dem ugaritischen Mythos versteht man: Die Frau konnte bisher überhaupt nicht schwanger werden! Für ein unsterbliches Wesen ist Reproduktion nicht notwendig. Doch nun, da der Mensch dem Tod ins Auge sieht, gewährt Gott die Fähigkeit, Kinder zu zeugen. Die Betonung liegt nicht auf den Schmerzen, sondern auf dem Kinder gebären! Die Frau besiegt den Tod, indem sie Kinder zur Welt bringt. Sie wird zu Chawwah (Eva), der Mutter aller Lebenden (Genesis 3,20). Der Gleichklang von Kubaba und Chawwah sei nur am Rande bemerkt.

Ungeachtet dessen, ob wir göttlicher Herkunft sind, bedeutet das: In der vom Menschen erlebten Schöpfung sind Dornen, Disteln und Geburtsschmerzen inklusive. Ob uns das gefällt oder nicht.

Wie ein Schlag ins Gesicht wirkt da Gottes Urteil über den erschaffenen Kosmos nur zwei Kapitel vorher: „Und siehe, es war sehr gut“ (Genesis 1,31). Man wird einwenden, dass hier die Schöpfung vor dem „Sündenfall“ des Menschen gemeint sein muss. Aber machen wir uns nichts vor. Der Mensch sprang doch zu diesem Zeitpunkt schon auf Erden herum, inklusive seiner Neigung zur Selbstbestimmung und seiner abenteuerlustigen Neugier. Meiner Ansicht nach war es unvermeidlich, dass der Mensch dem Rat der Schlange folgt und vom Baum der Erkenntnis nimmt. Er wurde so erschaffen. Nur inwiefern ist das „sehr gut“?

Des Rätsels Lösung liegt in der menschlichen Freiheit. Ich finde es sehr gut, dass wir keine Marionetten sind, die zu korrektem Handeln gezwungen werden. Wir dürfen selbstbestimmt leben, auch wenn das bedeutet, dass wir unsere eigenen Erfahrungen machen müssen. Tragischerweise bedeutet es sogar, dass wir die Natur an den Rand der Vernichtung bringen.

Wenn man die Schöpfung als kontinuierlichen Prozess versteht, sind unsere Fehltritte vielleicht notwendige Schritte auf dem Weg dahin, dass wir weise und gütige Verwalter des Planeten werden. Im Moment habe ich keine bessere Erklärung für unsere Existenz als die, dass es um das Sammeln von Erfahrung geht. Wohlgemerkt, ich spreche von unserer Existenz als Kollektiv, nicht als Individuum. Wie es scheint, hat Gott großes Interesse daran, dass wir die Erde mit kreativer Freiheit prägen und lebensbejahend regieren. Wir sind sein Werkzeug, mit dem er das Kunstwerk zu vollenden gedenkt. Vielleicht werden wir eines Tages in der Lage sein, die Welt in einen neuen Garten Eden zu verwandeln.

Die Schöpfung ist sehr gut, weil sie auf ein sehr gutes Ziel zusteuert.

Könnten wir doch nur diese verfluchte Schlange bezwingen! Wir mögen vergiftet sein, aber unser Kampf dauert an: „Er [der Nachwuchs der Frau] wird dir den Kopf zermalmen, und du [Schlange], du wirst ihm die Ferse zermalmen.“ Doch um Lotanu gefährlich werden zu können, müssen wir den Feind kennen. Und vielleicht benötigen wir etwas Unterstützung aus dem Himmel.

Der Leviathan – Lege nur deine Hand an ihn!

Im folgenden Abschnitt werden wir einen Blick weit über die ugaritische Kultur hinaus wagen. Es gilt, einige furchterregende Zusammenhänge zu verstehen und die tiefgreifende Bedeutung der Schlange zu erkennen. Auf dass wir sie nie wieder unterschätzen mögen.

Analysieren wir zunächst, was in späteren Teilen der jüdischen Bibel aus der Schlange von Eden geworden ist. Die Hebräer kannten Lotanu nämlich auch – Allerdings unter dem Namen Leviathan. Die wohl berühmteste Beschreibung dieses drachenartigen Ungetüms findet man im Buch Hiob, wo Gott selbst mächtig stolz auf sein Geschöpf ist:

„Ziehst du den Leviatan mit der Angel herbei, und hältst du mit dem Seil seine Zunge nieder? Kannst du einen Binsenstrick durch seine Nase ziehen und mit einem Dorn seine Kinnlade durchbohren? Wird er dich lange anflehen oder dir schmeichelnde Worte geben? […] Lege nur deine Hand an ihn! Denk an den Kampf! Du wirst es nicht noch einmal tun! […]

Sein Niesen strahlt Licht aus, und seine Augen sind wie die Wimpern der Morgenröte. Aus seinem Rachen schießen Fackeln, sprühen feurige Funken hervor. […] Sein Herz ist fest wie Stein und fest wie der untere Mühlstein. […] Wie Stoppeln gilt ihm die Keule, und er lacht über den Aufprall des Kurzschwertes. […] Er bringt die Meerestiefe zum Sieden wie einen Kochtopf, macht das Meer wie einen Salbentopf.“

Hiob 40,25 – 41,23
die Ouroboros-Schlange umgibt den Weltenbaum. (c) Nikolay Todorov

Der Name Leviathan kommt von der semitischen Wurzel lwy, das bedeutet folgen oder umgeben. In der Vorstellung umringt die Seeschlange den gesamten Kosmos, während sie mit dem Maul ihren eigenen Schwanz packt. Aufgrund dieser Kreisbewegung wurde sie auch flüchtige Schlange genannt – sie flüchtet vor sich selbst.

Das Bild des „Selbstverzehrers“ (griechisch Ouroboros) ist ein weit verbreitetes Symbol für den in sich geschlossenen Kosmos und das Wechselspiel aus Werden und Vergehen. Nichts anderes ist ja die stete Fortpflanzung des Menschen von Generation zu Generation, auf die wir seit dem Schlangenbiss angewiesen sind. Das Ouroboros-Symbol, die Schlange der Ewigkeit, findet sich bereits im alten Ägypten, beispielsweise auf dem Sarkophag des Pharao Tutanchamun.

Einen Mythos um die Weltenschlange gab es im Land der Pyramiden übrigens auch; darin heißt das Ungeheuer Apophis.

Mušhuššu auf dem wieder errichteten Ištar-Tor, heute im Pergamon-Museum zu Berlin

Aus Mesopotamien stammt Mušhuššu („schreckliche Schlange“), die auf dem berühmten Ištar-Tor der Hauptstadt Babylon verewigt und mit Beinen dargestellt wurde. In manchen Erzählungen werden sowohl Lotanu als auch Mušhuššu sieben Köpfe angedichtet. Somit könnte die griechische Sage von der Hydra ebenfalls im gleichen Welt-Epos ihren Ursprung finden.

Doch seine heroischste Ausdrucksform hat das Mythos gewiss in Skandinavien erreicht. Selbst die tapfersten Wikinger fürchteten die Midgardschlange Jörmungandr, die den Ozean umgibt und die Fluten daran hindert, abzufließen. Lässt sie ihren Schwanz los, beginnt der Weltenbrand Ragnarök. Der Donnergott Thor stellt sich dem Ungetüm mehrfach entgegen und versucht es mit seinem Kriegshammer Mjölnir zu erschlagen.

Nach dieser interkulturellen Vorstellung der Eden-Schlange kann man zumindest eines festhalten: Wir sind hier in göttlicher Mission als Drachentöter.

Leider sind wir nicht Thor, und häufig sieht es aus, als ob der Kampf nicht zu gewinnen ist. Doch es gibt Hoffnung. Ein bestimmter Nachkomme der Frau, der dem Leviathan den Kopf zermalmen würde (Genesis 3,15), betrat zur Zeitenwende das große Schauspiel. Sein Name war Jeshua aus Nazaret, doch er ging in die Geschichte ein als der Gottessohn Jesus Christus. Mit ihm begann etwas Neues; gewissermaßen das direkte Eingreifen des Allmächtigen in unsere vergiftete Welt.

Göttliche Intervention

Die Zerstörung des Leviathan. Gravur von Gustave Doré, 1865.

Der Nazarener lebte kompromisslose Nächsten- und Feindesliebe und predigte von einem Königreich des Himmels auf Erden, das mit ihm – hier und jetzt – begonnen hat. Je mehr seine Nachfolger lernten, sich seine Perspektive anzueignen, desto mehr verschoben sich ihre Prioritäten. Sie wurden frei von dem ständigen Verlangen, das Leben zu kontrollieren. Frei von der destruktiven Angst, ausgenutzt zu werden. In der Erkenntnis, dass Gott seine Geschöpfe bedingungslos annimmt und für jeden einen sehr guten Platz in der neuen Welt reserviert hat, fanden sie eine geradezu übermenschliche Kraftquelle. Wehe dir, Leviathan!

Trotzdem blickt Adammu – jeder von uns – nach wie vor dem Tod ins Auge. Es wirkt schon heroisch: Das Gift strömt nachtschwarz durch unsere Adern, die Augen blutunterlaufen, doch nunmehr in der Lage, die Bestie mit ins Verderben zu reißen! Wiederum nutzt Gott seine Menschen wie ein Werkzeug (vielleicht einen Hammer!), um die Schöpfung zu vollenden und die Schlange aus dem Weltenbaum zu verbannen. Wir werden dabei draufgehen. Es ist, als ob wir gemeinsam mit dem Leviathan (den zerstörerischen Trieben in uns) ins Grab fahren.

Uns wird Gott wieder aufwecken. Ihn nicht.

Der Mensch mag die ausführende Gewalt sein, aber die tatsächliche Kraft, die den Leviathan zur Strecke bringen wird, geht von Gott aus. Mehr noch, die Bibel ist geradzu durchsetzt von der Aussicht darauf, dass der Ewige eines Tages auch die letzten Reste lebensfeindlicher Einflüsse tilgen wird. Die flüchtige Schlange wird dabei genau so wörtlich erwähnt wie ihre zahlreichen Köpfe und der zuletzt wiederhergestellte Weingarten der Götter:

„Du [Gott] hast aufgestört das Meer durch deine Macht, hast zerschmettert die Häupter der Seeungeheuer auf dem Wasser. Du hast zerschlagen die Köpfe des Leviatans, gabst ihn zur Speise den Haifischen des Meeres.“

Psalm 74, 13+14 (ELB)

„An jenem Tag wird der HERR mit seinem harten, großen und starken Schwert heimsuchen den Leviatan, die flüchtige Schlange, und den Leviatan, die gewundene Schlange, und wird das Ungeheuer erschlagen, das im Meer ist. An jenem Tag [wird man sagen]: Ein prächtiger Weinberg! Besingt ihn!“

Jesaja 27, 1+2 (ELB)

Wie konkret die göttliche Intervention am Ende sein wird, bleibt offen. Immerhin haben wir es mit gewaltiger Bildsymbolik zu tun. Dagegen gilt es in der Realität hier und jetzt eine Schlacht zu gewinnen und eine Erde zu retten!

Es ist ein fataler Fehler unter Christen und Muslimen, sich ständig auf ein jenseitiges, nebulöses Dasein im Himmel zu vertrösten. Wir sind Gottes Werkzeug, mit dem er den Himmel auf Erden realisieren möchte. An dem Tag, da Gott alle Toten auferweckt, werden wir uns auf diesem Planeten wiederfinden (vgl. Jesaja 66,15–24; Lukas 13,29; Lukas 22,29–30). Ob das dann eine himmlische Erfahrung ist, können wir schon heute mit beeinflussen.

Sorgen wir dafür, dass der Schöpfer möglichst wenig mit eigener Hand beitragen muss!