Der Zorn des Kain

Neidisch, wütend, unstet und flüchtig: Die Menschheit wird selten so treffend und schonungslos charakterisiert wie beim Bruderstreit zwischen Kain und Abel. Wie reagierst du, wenn das Leben unfair ist?

Zwei Brüder oder zwei Schwestern?

Das Drama um Kain und Abel gehört zu den bekanntesten Erzählungen der Bibel. Erstaunlicherweise spielt Abel darin nur eine passive Rolle; der Hauptdarsteller ist eindeutig Adams erstgeborener Sohn Kain. Die Geschichte des ersten auf natürliche Weise geboren Menschen wird gleichzeitig zur Geschichte des ersten Mörders. Das, meine Damen und Herren, ist kein Zufall.

Der Text beginnt mit einer knappen Exposition, die schon äußerst wichtige Informationen liefert:

„Und der Mensch erkannte seine Frau Eva, und sie wurde schwanger und gebar Kain; und sie sagte: Ich habe einen Mann hervorgebracht mit dem HERRN. Und sie gebar noch einmal, seinen Bruder, den Abel. Und Abel wurde ein Schafhirt, Kain aber wurde ein Ackerbauer.“

Genesis 4, 1-2 (ELB)

Man liest leicht darüber hinweg, doch die Erwähnung der Berufe ist entscheidend. Denn Ackerbauern und Schafhirten standen in einer Rivalität, die seit dem 3. Jahrtausend v. Chr. wohlbekannt ist. Speziell die Sumerer, die auch Ackerbau betrieben, sahen in ihren nomadisch lebenden Nachbarn nichts als Barbaren. Dieser kulturelle Zwist bildet den Hintergrund, vor dem unsere Geschichte spielt. Wie tief verwurzelt der Konkurrenzkampf im Alltag unserer Vorfahren war, veranschaulicht ein uralter Mythos der Sumerer: Das Streitgespräch zwischen Schaf und Getreide. Darin diskutieren zwei Schwestern (!), eine Hirtin und eine Bäuerin, welche Profession wohl den größeren Nutzen habe:

„Getreide sprach zu Schaf: ‚Schwester, ich bin dir überlegen, ich nehme Vorrang vor dir. […] Ich bin Enlil’s Tochter. In Schafhütten und Melkpferchen auf den hohen Ebenen verstreut, was kannst du mir entgegensetzen? Antworte mir!‘ […]

Daraufhin entgegnete Schaf dem Getreide: ‚Meine Schwester, was redest du da? An, König der Götter, ließ mich vom heiligen Ort herabsteigen, meinem wertvollsten Ort. […] In der Robe, meinem Stoff aus weißer Wolle, jubelt der König auf seinem Thron. Aber deine Egge, Pflugschar, Bänder und Riemen sind Werkzeuge, die völlig zerstört werden können. Was kannst du mir entgegensetzen? Antworte mir!‘ […]“

Streitgespräch zwischen Schaf und Getreide, Zeile 71–115, Übersetzung aus dem Englischen von mir
Die Schwestern „Schaf“ und „Getreide“ auf dem Feld. (c) Agafonova Photo, Pexels.com

Am Ende fällen die Götter ein Urteil und zwingen die Hirtin, vor der Bäuerin niederzuknien. Vermutlich sollte dadurch die Überlegenheit der Sumerer herausgestellt werden. Das entspräche auch der tatsächlichen Situation, denn die Sumerer wurden nicht zuletzt aufgrund ihrer Agrarwirtschaft die führende Kultur im ganzen vorderen Orient.

Der Genesis-Text steht zweifellos in dieser Erzähl-Tradition. Den frühesten Lesern muss sofort klar gewesen sein, dass die grundsätzliche Feindschaft zwischen Kain und Abel in der Natur ihrer Berufe liegt. Wenn Kain später im Text den Abel ermordet, wird die Dominanz der Bauern gegenüber den Hirten ausgedrückt.

Die hebräischen Genesis-Autoren, die ja selbst traditionell einem Hirtenvolk angehörten, sahen sich selbstverständlich mit Abel verbunden. Vom Anbeginn ihrer Geschichte wurden sie von der ackerbauenden Großmacht Ägypten unterdrückt. Deshalb bringt der Bibeltext nun auf subtile Weise Gottes Meinung ins Spiel:

„Und es geschah nach einiger Zeit, da brachte Kain von den Früchten des Ackerbodens dem HERRN eine Opfergabe. Und Abel, auch er brachte von den Erstlingen seiner Herde und von ihrem Fett. Und der HERR blickte auf Abel und auf seine Opfergabe; aber auf Kain und auf seine Opfergabe blickte er nicht.“

Genesis 4, 3–5a (ELB)

Die Aussage ist klar: Weil nur das Opfer des Hirten angenommen wird, steht Gott auf der Seite der Nomadenvölker! Der Genesis-Text ist ein Schlag ins Gesicht für jede Art von Imperialismus. In der Tat ist das eine der zentralsten Aussagen der gesamten Bibel: Der Ewige ergreift Partei für die Unterdrückten, Heimatlosen, Irrenden, während die Reichen und Mächtigen, die es sich in ihren Palästen gemütlich machen, aufs Schärfste kritisiert werden.

Damit ist die Ausgangssituation umrissen. Unabhängig davon, wie Gott dazu steht, leben wir in einer ungleichen, ungerechten Welt. Manchen Leuten scheint das Glück nur so zuzufliegen, während andere ständig vom Pech verfolgt sind. Manche Leute wachsen in der ägyptischen Religion auf, andere in der Sumerischen oder Hebräischen oder Muslimischen. Es gibt Ackerbauern und es gibt Schafhirten. Viel hängt schlicht davon ab, wo und wann du geboren wurdest. Dafür kannst du rein gar nichts. Warum die Welt so schräg ist, kann ich nicht beantworten; die Frage muss sich Gott gefallen lassen.

Vom Brand-Opfer zum Mord-Opfer

Die Kritik an der Ackerbauern-Gesellschaft ist eine wichtige Beobachtung, sie steht aber nicht direkt im Text. Daher stellt sich die drängende Frage: Welches konkrete Problem hat Gott mit Kain als Person? Welche Erklärung bietet der Handlungsverlauf dafür, dass Gott Kains Opfer nicht anblickte? Wir werden ein paar mögliche Antworten mit dem Text abgleichen und auf ihre Tauglichkeit prüfen.

Erste Beobachtung: Kain nahm irgendwelche Früchte des Ackerbodens, während Abel ausdrücklich erstgeborene Tiere für das Brandopfer wählte. Daraus folgt auch, dass Kains Gabe leblos war, während bei Abel Blut floss. In der Überzeugung der Hebräer hat Gott speziell die Erstgeburten für sich als Opfer eingefordert, was aus späteren Bibeltexten mehr als deutlich wird (Exodus 34,19). Das würde bedeuten, dass Kain die „richtigen“ Opfer-Vorschriften nicht kannte oder nicht befolgte. Aber ist das nicht sowieso klar? Die Erzählung von Kain und Abel ist schließlich nicht in der Geschichte des hebräischen Volkes angesiedelt! Die Opfer-Rituale wurden dem Hirtenvolk erst unter ihrem Führer Mose gegeben, und das war Jahrtausende nach Adam und seinen Söhnen. So, wie die Geschichte erzählt ist, konnte Kain Gottes Vorlieben nicht wissen. Abel hat es bestenfalls intuitiv richtig gemacht; aber kann man seinem Bruder daraus wirklich einen Vorwurf machen?

Die idealisiert dargestellten Brüder Kain und Abel. (c) Zeugen Jehovas, JW.org

Eine zweite, vergleichsweise banale Überlegung geht davon aus, dass Gott schon vor dem Brudermord in Kains Herz gesehen hat, wozu er fähig ist. Mit anderen Worten: In seinem tiefsten Inneren war Kain einfach ein böser Mensch und deshalb hat er es nicht verdient, von Gott angenommen zu werden. Die Gemeinschaft der Zeugen Jehovas geht sogar so weit, Abel als den ersten Gläubigen zu bezeichnen, während Adam, Eva und Kain böswillige Sünder waren. Sie hatten einfach „nicht genug Glauben“; was auch immer das konkret bedeuten soll. Die Sache wird scheinbar unterstützt durch die christliche Auslegung, die sich im Neuen Testament der Bibel findet: „Durch Glauben brachte Abel Gott ein besseres Opfer dar als Kain“ (Hebräer 11,4). Doch vorsicht: Dieser Bibelvers sagt nur etwas über Abels Opfer in Relation zu Kains Opfer. Das bedeutet noch lange nicht, dass Kains Opfer schlecht war, und erst recht nicht, dass er ein besonders schlimmer Schurke war. Wer Kain und Abel als zwei moralische Extreme polarisiert, vergisst, dass auch Gläubige genug Dreck am Stecken haben.

Daraus folgt eine dritte Position: Für Kains Zurückweisung gibt es überhaupt keinen erkennbaren Grund. Gerade das sei die Pointe! Die Geschichte dient als Gleichnis für jede Situation, in der Menschen ungerecht behandelt werden. Eine sympathische Antwort – leider mit dem großen Haken, dass die ungerechte Behandlung von Gott ausgeht. Das ist schwer verdaulich.

Um gefährlichen Spekulationen vorzubeugen, möchte ich daher festhalten: Der einzige, unmittelbar und unmissverständlich im Text stehende Unterschied zwischen den Brüdern ist der, dass Kain zur sozialen Schicht der Ackerbauern gehört, was zwangsläufig die Art seines Opfers beeinflusst. Damit war er aus hebräischer Sicht ein Fremder. Und obwohl auch er diesem geheimnisvollen Gott gefallen möchte, wird sein Opfer zurückgewiesen.

Am Ende spielt es keine Rolle, was die exakten Gründe für die Ablehnung des Opfers waren. Entscheidend ist das Ergebnis, das bestimmt jeder Mensch nachvollziehen kann: Kain brennen vor Neid alle Sicherungen durch.

„Da wurde Kain sehr zornig, und sein Gesicht senkte sich. Und der HERR sprach zu Kain: Warum bist du zornig, und warum hat sich dein Gesicht gesenkt? Ist es nicht [so], wenn du recht tust, erhebt es sich? Wenn du aber nicht recht tust, lagert die Sünde vor der Tür. Und nach dir wird ihr Verlangen sein, du aber sollst über sie herrschen.

Und Kain sprach zu seinem Bruder Abel: Lass uns aufs Feld gehen! Und es geschah, als sie auf dem Feld waren, da erhob sich Kain gegen seinen Bruder Abel und erschlug ihn.“

Genesis 4, 5b–8 (ELB)

Durch die Jahrtausende wurde diese Szene häufig so gelesen, dass „wir Christen“ die frommen Abels sind, die von den Bösen Kains dieser Welt angefeindet werden. Selbstverständlich sind wir nicht wie Kain. Mit dieser Perspektive wird die Geschichte eine schöne Bauchpinselei und führt zu einer realitätsfremden Wohlfühl-Theologie.

Ist es nicht viel mehr so, dass jeder mal neidisch wird? Wird nicht jeder Mensch früher oder später mit Situationen konfrontiert, die er ungerecht empfindet (unabhängig davon, ob sie es tatsächlich sind)? Sei dir gewiss: Am meisten lernt aus der Geschichte, wer sich eingesteht: In jedem von uns steckt ein Kain.

Die Welt ist kein Ponyhof. Hier werden Menschen furchtbare Dinge angetan. Und wer verletzt wurde, wird sehr wahrscheinlich wieder andere verletzen. Es ist leicht, Kain als Antagonisten und Mörder abzustempeln. Aber machen wir uns nichts vor. Ich behaupte, dass jeder von uns prinzipiell zu allem fähig ist. Mag sein, dass du es dir im Moment nicht vorstellen kannst. Aber wenn du lange genug gemobbt wurdest, ein paar Jahre im Folterknast zubringen musstest oder deine Tochter vergewaltigt wurde, sieht die Welt ganz anders aus. Kein Mensch setzt sich hin und beschließt einfach so, zum Mörder zu werden. Es sind die Umstände, die einen dahin treiben.

Die Macht der dunklen Seite

Die Schlange von Eden (c) Creationmuseum.org

Aus der Geschichte von Adam, Eva und der Schlange sowie dem Weltenbaum der Erkenntnis geht hervor, dass sich der menschliche Drang nach Selbstbestimmung äußerst negativ auf unsere Umwelt auswirkt. Dieser Trieb ist einfach da, ob wir wollen oder nicht. Selbst wenn wir uns der negativen Folgen unserer Entscheidungen bewusst sind, ist uns häufig der Augenblick wichtiger als die Zukunft oder die Konsequenzen für die Natur.

Mit mehr oder weniger Bedenken kaufen wir Plastikprodukte, Made in Bangladesch und Fleisch von gefolterten Tieren. Manchmal ist es, als seien wir von einer Schlange gebissen, deren Gift unseren Verstand benebelt und unseren eigentlichen Willen lähmt. Vielleicht würden wir auch nachhaltiger leben, wenn es die finanzielle Situation zuließe. Dann gleicht das System des rücksichtslosen Kapitalismus den Fangzähnen der Schlange, die in unserer Ferse stecken.

So oft im Leben Jenseits von Eden widerfährt dem einen Gutes und dem anderen nicht, und niemand kann etwas dafür. Wie fremdgesteuert werden wir neidisch – das Schlangengift flammt in uns auf. Es beginnt in uns zu brodeln; die Emotionen entreißen dem Verstand die Kontrolle. Genau das ist Kain widerfahren. Im Bibeltext senkt sich sein Blick, und die nachfolgenden Worte Gottes scheint er nicht mehr wirklich wahrzunehmen.

Es ist durchaus spannend, dass der Text an dieser Stelle extrem verstümmelt und schwer zu verstehen ist. Als ob Gottes Wort auch zu uns nur noch in Fragmenten durchdringt! Die Verbindung zum Himmel ist gestört. Zwar wurde in den deutschen Übersetzungen versucht, einen sinnvollen Satz zu bilden, aber der hebräische Text enthält nur Fetzen, die man streng genommen ungefähr so wiedergeben müsste:

„Und Jahweh sprach zu Kain: Warum bist du zornig? Wozu ist dein Antlitz gefallen – nicht wahr – wenn du Gutes tust – erheben! Und wenn du nicht Gutes tust – an der Tür – die Sünde – ein Lagerer – und nach dir sein Verlangen – du aber beherrsche ihn!“

Genesis 4, 6+7

Das ist keine vernünftige Syntax! Rätselhaft ist auch, weshalb das Geschlecht des Wortes „Sünde“, das im Hebräischen auch weiblich ist, hier ins Männliche wechselt. Meine Vermutung ist, dass ein Anklang an die Schlange vorliegen könnte. Das Reptil kann durchaus vor der Tür lauern; und im Gegensatz zur deutschen Schlange ist das hebräische Wort נחש (nahash) in der Tat maskulin. Man müsste sagen: Der Schlang hat uns gebissen!

Gottes Aufforderung ist deutlich: Beherrsche den Schlang in dir. Es ist die heilige Aufgabe der Menschheit, die Schöpfung in lebensförderlicher Weise zu formen (Genesis 2,15). Das Schwierigste daran ist, sich selbst zu beherrschen. Leider neigen wir dazu, unter Stress und Anfeindung sehr schnell unbeherrscht zu reagieren. So kommt es, dass in unserer Welt täglich Abel’s erschlagen werden. Wenn man es mal nüchtern betrachtet, sind wir alle – auch fromme Christen – fürchterlich schlecht im Beherrschen der Sünde. Anders gesagt: Wir kriegen es einfach nicht auf die Reihe, lebensfeindliche Taten zu vermeiden.

Glücklicherweise bietet die Geschichte von Kain und Abel gerade angesichts dieses Versagens unerwarteten Trost. Denn Gottes Weg mit dem Mörder endet nicht nach der Tat.

Von Schuld und Strafe

Es folgt eine etwas befremdliche, aber ausschlaggebende Szene:

„Und der HERR sprach zu Kain: Wo ist dein Bruder Abel? Und er sagte: Ich weiß nicht. Bin ich meines Bruders Hüter? Und er sprach: Was hast du getan! Horch! Das Blut deines Bruders schreit zu mir vom Ackerboden her. Und nun, verflucht seist du von dem Ackerboden hinweg, der seinen Mund aufgerissen hat, das Blut deines Bruders von deiner Hand zu empfangen! Wenn du den Ackerboden bebaust, soll [wird] er dir nicht länger seine Kraft geben; unstet und flüchtig sollst [wirst] du sein auf der Erde!

Da sagte Kain zu dem HERRN: Zu groß ist meine Schuld, als dass ich sie tragen könnte. Siehe, du hast mich heute von der Fläche des Ackerbodens vertrieben, und vor deinem Angesicht muss ich mich verbergen und werde unstet und flüchtig sein auf der Erde; und es wird geschehen: Jeder, der mich findet, wird mich erschlagen.

Der HERR aber sprach zu ihm: Nicht so, jeder, der Kain erschlägt – siebenfach soll er gerächt werden! Und der HERR machte an Kain ein Zeichen, damit ihn nicht jeder erschlug, der ihn finden würde. So ging Kain weg vom Angesicht des HERRN und wohnte im Land Nod, östlich von Eden.“

Genesis 4, 9-16 (ELB)

Halten wir fest, dass der Mord nicht verharmlost wird. Kain muss die vollen Konsequenzen tragen: In seinem Umfeld kann er sich nicht mehr blicken lassen und wird aus der Gesellschaft verstoßen. Er ist nun gezwungen, das Leben als Ackerbauer aufzugeben und selbst ein Nomade zu werden („unstet und flüchtig wirst du sein“). In einer Ur-Fassung war die Geschichte vielleicht sogar so gemeint, dass an den Händen der Ackerbauern generell Blut klebt. Die Ungerechtigkeit, die der zentralisierte Städtebau und die Landwirtschaft im frühen Mesopotamien und Ägypten verursachte, schreit vom Ackerboden her zu Gott!

So gesehen nimmt Kain eine Vorbildfunktion unter den Ackerbauern ein. Denn was nun folgt, ist nicht weniger als ein Schuld-Eingeständnis: „Zu groß ist meine Schuld, als dass ich sie tragen könnte!“ Viele deutsche Bibeln schreiben hier: „Zu groß ist meine Strafe“, als ob sich Kain auch noch über die Konsequenzen beschwert. Damit wäre sein Image vollständig ruiniert. Die Verwendung des Wortes „Strafe“ ist aber bedenklich, weil das zugrundeliegende hebräische Wort עון (´awon) über 200 Mal in der Bibel vorkommt und fast immer mit „Schuld“ übersetzt wird. Wenn nicht, liefert der Kontext gute Gründe. Nur bei Kain wird zielsicher von „Strafe“ gesprochen, weil man offensichtlich der Meinung ist, das sei die einzig richtige Behandlung eines Mörders.

Tatsächlich scheint Kain die Tragweite seines Handelns zu erkennen und bestätigt die Folgen, die ihn treffen werden. Daraufhin zeigt Gott, dass er den gebrandmarkten Mörder nicht aufgibt. Dem Schöpfer ist es nicht egal, was mit Kain passiert. Er kennt die Hintergründe im Herz dieses Mannes. Er sieht, dass auch Kain einst eine reine Kinderseele war, die wahrscheinlich zu viele schlimme Dinge erlebt hat. Und so verhindert Gott, dass Kain als Vogelfreier zum Opfer der Blutrache wird (vgl. Numeri 35,19). Strafe trägt selten zur Besserung bei; meistens treibt sie einen Menschen nur in größere Verbitterung und schafft weiteres Leid. Bestenfalls dient sie zur Abschreckung.

Dieser wichtige Wendepunkt zeigt, dass Gott seine Menschen nicht verdammt; egal was sie angestellt haben. Auch ein Schwerverbrecher, der aufrichtige Reue empfindet, wird vom Schöpfer wieder angenommen. Natürlich ist der angerichtete Schaden damit nicht behoben, und auch Gerechtigkeit wurde nicht wiederhergestellt. Deshalb lebt Kain fortan „im Land Nod, östlich von Eden.“

Um die Gerechtigkeit wird sich Gott noch kümmern. An jenem Tag wird Abel wieder leben und sich mit seinem Bruder versöhnen. Doch dieser Tag ist nicht heute.